Vergeltung (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Cureghem, dem marokkanischen Viertel.
Er verlässt den Bahnhof und biegt links in die Rue Bara.
Ob sie Zeit hatten, Saif Fragen zu stellen, bevor sie ihn abgeknallt haben? Aber Saif hätte ihnen nichts erzählt. Nur Anwar – so gottesfürchtig er auch gewesen sein mag, unter Androhung von Gewalt wäre er vielleicht eingeknickt.
Bestimmt sogar.
Jedenfalls, denkt Aziz, kann er ihnen nicht viel verraten haben.
Trotzdem …
Er biegt jetzt rechts in die Rue de l’Instruction, dann links in den Clos Mudra. Als er die Nummer 11 findet, eine schäbige Pension, vergewissert er sich erst einmal, ob das Haus unter Beobachtung steht.
Schließlich nimmt er seinen Mut zusammen und klingelt.
Ein junger Mann in einem schmutzigen, ärmellosen T-Shirt kommt an die Tür, erkennt ihn und lässt ihn rein. Erst in dem schmalen Hausflur sieht Aziz, dass der Mann eine Kalaschnikow hinter dem Rücken versteckt.
»Ist mir eine Ehre«, sagt der Mann.
Aziz nickt nur, und der Mann führt ihn durch den Flur in ein Hinterzimmer.
Dahir und Baseyew sind schon da. Sie sitzen auf alten Rohrstühlen und trinken Tee, wirken betreten und in dem heruntergekommenen Zimmer auch irgendwie deplatziert. Sie balancieren ihre Tassen und Untertassen auf dem Schoß. Als Aziz eintritt, stellen beide ihre Getränke auf dem Boden ab und stehen auf.
»Tut mir leid wegen Saif«, sagt Dahir und küsst Aziz auf beide Wangen.
»Er ist im Paradies«, erwidert Aziz.
»Allerdings.«
»Setzt euch«, sagt Aziz und nimmt sich selbst ebenfalls einen Stuhl. Er möchte dieses Treffen so schnell wie möglich hinter sich bringen. Nicht nur ist das Zimmer unangenehm, das Treffen selbst ist höchst riskant.
Die Männer in diesem Raum sind so etwas wie der Vorstand von Aziz’ Netzwerk und sollten sich eigentlich – außerin einer echten Krisensituation – niemals zur selben Zeit am selben Ort aufhalten. Ein solches Treffen hätte er niemals im Jemen, in Pakistan, in Somalia oder im Sudan anberaumt – nirgends, wo die Amerikaner es wagen würden, einen Drohnenangriff zu starten.
Aber wegen einer Polizeirazzia hier im Brüsseler Cureghem-Viertel, das unter den Ordnungshütern als Tabuzone gilt und häufig Schauplatz erbitterter Unruhen ist, macht sich Aziz jetzt keine Sorgen. Beunruhigender findet er die Möglichkeit, dass ein amerikanisches Spezialkräftekommando eingreifen könnte. Wenn sie’s in Kenia getan haben, warum dann nicht auch in Belgien? Im Zentrum der europäischen Union? Wahrscheinlich ist es nicht – das Leben von »Weißen« ist ihnen mehr wert als das von »braunen« oder »schwarzen« Menschen. Trotzdem, nicht mal nach dem erfolgreichen Anschlag auf Flug 211 hatte er sich mit Hassan Dahir und Shamil Baseyew zusammengesetzt, nicht mal um bei einem Glas Tee zu feiern.
»Wer war für den Überfall auf Lamu verantwortlich?«, fragt Aziz. »Die Delta Force? Navy Seals?«
Aziz’ Bemühungen, einen Mann bei der Delta Force oder bei den Seals einzuschleusen, hatten sich bislang als fruchtlos erwiesen, aber er hat durchaus ein paar Männer beim amerikanischen Militär. Und ein paar dem amerikanischen Lebensstil zugeneigte Sympathisanten leben in Städten mit Special-Forces-Stützpunkten. Sie halten Augen und Ohren in den dort angesagten Bars und Restaurants offen, belauschen die Ehefrauen und Familien der Soldaten, spionieren sogar die von Special-Ops bevorzugten Friseurgeschäfte aus, so dass sie zumindest ungefähr wissen, wann die verschiedenen Einheiten kommen und gehen. An den Stützpunkten im Irak und in Afghanistan wimmelt es natürlich nur so von Aziz’ Agenten –Köche, Hausmeister, Übersetzer werden alle großzügig entlohnt.
»Wir haben bislang nichts gehört«, sagt Dahir. »Aber wir machen uns Sorgen um dich, mu’alim . Vielleicht haben es die Amerikaner als Nächstes auf dich abgesehen.«
Natürlich haben sie’s auf mich abgesehen, denkt Aziz. Und der Zeitpunkt könnte nicht unpassender sein – ausgerechnet jetzt, wo er Yusuf und seine Milliarden für sich gewinnen will. Wir müssen uns beeilen und die Waffe für den nächsten Anschlag beschaffen.
Botulinumtoxin (BoNT) ist das tödlichste bekannte Gift. Es löst eine Infektion aus, die mit der Lähmung der Gesichtsnerven beginnt, sich rasch bis in alle Gliedmaßen ausbreitet und anschließend auf die Atmung übergreift, am Ende kommt es zum Atemstillstand.
Neunzig Nanogram BoNT genügen, um eine hundert Kilo schwere Person zu töten. Vier Kilo Botulinumtoxin – gleichmäßig
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