Vergeltung (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
noch nicht.«
»Was sollen wir machen?«, fragt Leighton. »Immer weiter töten, die Gefangenen auf ewig einsperren? Wann erklären wir unseren Sieg, Dana?«
»Wenn wir gewonnen haben.«
»Und wann wird das sein?«, fragt Leighton. »Wenn der letzte Terrorist getötet wurde? Dazu wird es nicht kommen. Weil wir uns jedes Mal, wenn eine Drohnenrakete trifft und einen Zivilisten tötet, neue Feinde machen. Führen wir jetzt also bis in alle Ewigkeit Krieg?«
»Diese Leute sind das leibhaftige Böse«, hält Wendelin dagegen.
»Da gebe ich Ihnen recht«, sagt Leighton. »Aber sogar einMafiaboss weiß, dass man sich früher oder später mit den Menschen, die man hasst, an einen Tisch setzen muss.«
»Wollen Sie sich mit Aziz an einen Tisch setzen, John?«, fragt Wendelin. »Ich nicht. Erzählen Sie der Öffentlichkeit, was Sie wollen, ich stehe hinter Ihnen, aber wir beide wissen, was mit Flug 211 wirklich geschehen ist, wer für den Absturz verantwortlich war, und wir sollten – entschuldigen Sie den Ausdruck – Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um für Gerechtigkeit zu sorgen.«
»Mag sein«, sagt Leighton, »aber wir dürfen diese Aufgabe keinem ehemaligen Soldaten wie Collins überlassen, das ist Selbstjustiz.«
»Selbstjustiz?«
»Wie nennen Sie es sonst, wenn ein Mann auf eigene Faust für Gerechtigkeit sorgt?«
»Ich nenne das einen Mann, dessen Regierung sich weigert, es für ihn zu tun«, erwidert Wendelin. »Wir stehen hier auf der falschen Seite, John.«
Leighton tritt an ein großes Erkerfenster, blickt einige Sekunden lang hinaus, dann dreht er sich um und sagt: »In ein paar Monaten, vielleicht schon in ein paar Wochen, stehen äußerst wichtige Friedensgespräche mit den Taliban an. Wir dürfen uns nichts erlauben, was die Araber erzürnt und den positiven Ausgang der Gespräche gefährdet. Suchen Sie Collins und halten Sie ihn auf.«
»Was ist mit Aziz?«
»Mit wem?«
»Wir sind alte Freunde«, sagt Wendelin. »Wenn es in diesem Land zu einem weiteren Anschlag kommt und Aziz dafür verantwortlich ist, dann werde ich offiziell vergessen haben, dass Sie das jemals gesagt haben. Aber in Wahrheit werden Sie und ich uns daran erinnern. Und die Erinnerung werden wir mit ins Grab nehmen müssen. Guten Tag, John.«
Wendelin steht auf.
»Wo wollen Sie hin?«
»Collins suchen.«
Wo auch immer er steckt.
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Dave überquert den Marienplatz.
Das neue Rathaus und die Türme der Frauenkirche ragen hoch über ihm auf.
Nach dem Einsatz auf Lamu waren sie nicht zum Stützpunkt in Costa Rica zurückgekehrt, sondern hatten sich gleich in alle Winde zerstreut. Ein paar Männer waren nach Hause gefahren, andere in den Urlaub; ein harter Kern – Donovan, Ulrich und Dave – waren nach Deutschland gefahren, um die nächste Phase der Operation vorzubereiten.
Sie halten sich in unterschiedlichen Städten auf und fahren jeden zweiten Tag woanders hin, wechseln immer wieder die Identität, bezahlen grundsätzlich bar, benutzen Handys möglichst nur einmal, höchstens zweimal, dann werfen sie sie weg.
Jetzt sind wir die Terroristen, denkt Dave.
Wir leben wie sie.
Er überlegt, ob er in die Kirche gehen und beten soll.
Aber beten zu wem und wofür?, fragt er sich.
Zu einem Gott, an den ich nicht mehr glaube? Soll ich um Vergeltung bitten?
Lieber Gott, bitte lass mich Menschen töten. Im Namen Jesu, Amen .
Er hat Zweifel, ob Jesus sein Anliegen gutheißen würde.Schon okay, Dave ist eher ein alttestamentarischer Typ. Der Gott im Alten Testament würde ihn verstehen. Eigentlich ist es immer wieder dasselbe. Will man die Ursprünge des Terrors verstehen, muss man nur das Alte Testament lesen.
Du könntest für Diana und Jake beten, denkt er. Aber brauchen unschuldige Seelen Gebete? Wenn es einen Himmel gibt, dann sind sie dort. Wenn nicht …
Dann bete für dich selbst. Deine Seele ist wohl kaum unschuldig. Du hast unzählige Menschen ins Jenseits befördert, und jetzt planst du, noch ein paar mehr um die Ecke zu bringen. Was willst du im Beichtstuhl sagen?
Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt. Seit meiner letzten Beichte sind siebenundzwanzig Jahre vergangen, und ich habe getötet, mehr oder weniger, ungefähr … Der Herr hat dir deine Sünden vergeben, geh hin in Frieden … Äh, genau genommen, Vater …
Er geht nicht in die Kirche.
Stattdessen stellt er sich zu der Gruppe von Touristen, die auf den Beginn des Glockenspiels warten. Darauf, dass die Glocken läuten und die bunt bemalten
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