Vergeltung
müssen.« Er seufzte vor Verzweiflung. »Nur ein weiterer Grund, vorerst in Deckung zu gehen, an den Ort, wo du dich sicher fühlst. Ausruhen. Nachdenken. Neue Pläne schmieden. Und dann so zuschlagen, dass Micky für den Rest ihres Lebens leiden wird.« Es kam ihm richtig vor. Genau so dachte Vance. Es hatte eine Weile gedauert, bis sich Tony wieder in Vance hatte hineindenken können. Doch jetzt war er sich sicher. Er wusste es nicht nur verstandesmäßig, er fühlte es auch. Er verstand, wie Vance tickte, was er brauchte und was ihn befriedigte.
»Du hast gedacht, du würdest es im Nu erledigen, nicht schön, aber schnell. Würdest deine Liste abarbeiten, und dein Rachefeldzug wäre abgeschlossen. Aber jetzt weißt du, dass es nicht so einfach ist. Sie müssen wirklich leiden …« Langsam verstummte er.
Wenn die Pferde nicht ausreichten, dann reichte das Haus auch nicht aus. In Tonys Welt war es ein schlimmer Verlust gewesen, fast wie ein Trauerfall. Andere Menschen würden das nicht so sehen. Vance hätte das vielleicht kapiert, wenn er die Überwachung und Beurteilung selbst vorgenommen hätte. Wenn er Tony im Haus hätte beobachten können, dann hätte er genau gewusst, was er ihm da wegnahm. Aber das hatte er nicht getan. Er hatte sich auf Berichte von Dritten verlassen müssen. Berichte von Leuten, die keine Begabung dafür hatten, in die Köpfe anderer Leute zu schauen.
Unter diesen Umständen konnte das Haus gar nicht ausreichen. Carol wäre natürlich das offensichtlichste Opfer, wenn man ihm jemanden wegnehmen wollte. Das würde ihm das Herz herausreißen, daran bestand kein Zweifel. Doch Carol konnte Vance nicht töten, denn ihr eigenes andauerndes Leid war Voraussetzung für seine Befriedigung. Und hätte das ausgereicht, was Chris statt Carol zugestoßen war? Vielleicht. Aber wenn eine schwerverletzte und entstellte Carol noch nicht genug war, dann blieben nicht viele Alternativen übrig.
Tony hatte nicht viele Freunde. Er hatte jede Menge Bekannte, Kollegen, ehemalige Studenten. Es gab eine Handvoll Leute, die er als Freunde bezeichnete, aber die standen ihm nicht auf die Art nahe, die Vance für seine Rache brauchte. Überhaupt würden sie Außenstehenden wahrscheinlich eher als Arbeitskollegen erscheinen. Wenn er sich mit Ambrose oder Paula auf einen Drink traf, dann würde das wirken wie ein typisches Feierabendbier unter Kollegen. Keine große Sache. Nur jemand, der Tony wesentlich besser kannte als Vance, hätte die Wichtigkeit dieser Verbindungen erkennen können. Wenn es um Rache ging, kamen diese Leute gar nicht erst in Betracht.
Rache muss tief gehen, sonst ist sie nichts wert. Tony verstand das urtümliche Bedürfnis nach befriedigender Rache. Sein ganzes Leben lang hatte seine Mutter ihn als emotionalen Punchingball missbraucht. Sie hatte ihn belächelt, sich über ihn lustig gemacht und ihn kritisiert. Sie hatte dafür gesorgt, dass er ohne Vater, ohne Zufluchtsmöglichkeit und ohne Liebe aufgewachsen war. Es war ihr gleich gewesen, ob er zurechtkam oder ob er Probleme hatte. Und so war er zu einem emotional beschränkten, dysfunktionalen Menschen herangewachsen, der sich durch das, was von der Liebe anderer Menschen abfiel, und durch die Gabe der Empathie über Wasser hielt.
Als er letztendlich das volle Ausmaß von Vanessas Intrigen und Lügen begriffen hatte, schwor er sich, nie wieder ein Wort mit ihr zu wechseln. Doch je mehr er sich mit der Idee, sein Leben zu ändern, angefreundet hatte, je näher er sich seinem verstorbenen Vater Arthur Blythe gefühlt hatte, desto mehr hatte er das Bedürfnis verspürt, sie wissen zu lassen, dass sie es nicht geschafft hatte, ihn zu zerstören. Dem Mann, den sie aus seinem Leben verbannt hatte, war es gelungen, Vanessas Hass zu umschiffen und seinem Sohn die Hand zu reichen. Tonys Psyche war dadurch ein Stück weit geheilt worden. Er konnte sich keine bessere Möglichkeit vorstellen, Vanessa zu ärgern, als sie das alles wissen zu lassen.
Also war er eines Nachmittags nach Halifax gefahren und hatte auf sie gewartet. Sie war überrascht gewesen, ihn zu sehen, hatte ihn aber hereingebeten. Er hatte ihr gesagt, was er zu sagen hatte, und als sie versuchte, ihn zu unterbrechen, war er laut geworden und hatte einfach weitergeredet. Nach einer Weile hatte sie tatsächlich den Mund gehalten und ihn mit verächtlicher und doch amüsierter Miene angeblickt. An ihrer Körpersprache konnte er jedoch ablesen, dass sie innerlich vor ohnmächtiger
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