Vergeltung
anderer Menschen genau einschätzen zu können. Während Vanessa diese Gabe nutzte, um sich einen Namen als geschickte Headhunterin zu machen, half sie Jordan dabei, Straftäter vor Gericht zu bringen. Vanessa sah darin keinen Sinn. Wo blieb dabei der Gewinn? Sie hatte nichts gegen die Polizei. Irgendjemand musste schließlich den Abschaum in Schach halten. Doch war das gewiss keine Laufbahn für jemanden, der wirklich etwas draufhatte. Und das war letztendlich der Grund, warum sie Carol Jordan nicht respektieren konnte.
Noch bevor sie sich zu sehr in ihre Gedanken über Carol Jordan vertiefen konnte, erregte die Nachrichtensendung erneut ihre Aufmerksamkeit, und diesmal schaute sie gebannt zu. Der Mord war nun abgehakt, und der Nachrichtensprecher fuhr fort: »Vance soll auch zu einem weiteren Brandanschlag befragt werden. Letzte Nacht ist dieses Haus in Worcester bis auf die Grundmauern ausgebrannt.« Das Foto einer rauchenden Ruine wurde eingeblendet. »Glücklicherweise war niemand im Haus, als das Feuer ausbrach. Die Polizei hat den Namen des Besitzers noch nicht bekanntgegeben, doch laut Auskunft der Nachbarn handelte es sich beim verstorbenen Vorbesitzer um einen gewissen Arthur Blythe. Der neue Besitzer soll hier noch nicht viel Zeit verbracht haben.«
Arthur Blythe. Unter dem Namen hatte Eddie gelebt, nachdem er sich genug erholt hatte, um sie verlassen zu können. Als ob er sein altes Selbst abstreifen wollte. Nach allem, was sie mitgemacht hatte, hätte ihr das Haus zugestanden. Doch er hatte es dem Bastard hinterlassen. Wie man jemandem wie Tony etwas hinterlassen konnte, war ihr unbegreiflich. Ihr würde das jedenfalls nicht passieren. Bevor sie das Zeitliche segnete, würde sie alles verprassen. Ein, zwei Jahre noch, bis die Wirtschaft wieder in Schwung kam, dann würde sie die Firma, die sie ihr Leben lang aufgebaut hatte, zu Geld machen. Sie hatte bereits exakt geplant, was sie alles noch tun wollte, bevor sie abtrat: alle vier Tennis-Grand-Slams sehen, und zwar von den besten Sitzplätzen aus, bei Safaris alle gefährlichen Tiere Afrikas sehen, eine Privatkreuzfahrt zu den Galapagos Inseln, das Filmfestival in Cannes, das Polarlicht und noch ein Dutzend Sachen mehr. Wenn sie damit durch war, würden für Tony keine zwei Cent mehr übrig bleiben.
Der Nachrichtensprecher war nun zum Fußball übergegangen, doch Vanessa hatte das Bild des abgebrannten Hauses noch klar vor Augen. Es war interessant, wie weit ein Mensch gehen konnte, wenn er jemanden verletzen wollte. Auch für Jacko Vance empfand Vanessa einen gewissen widerwilligen Respekt. Er war ebenfalls ein Mensch, der seine Ziele bis zum bitteren Ende verfolgte. Im Prinzip spielte es für ihn keine Rolle, dass das, was er wollte, illegal und unmoralisch war und dass die Medien Zeter und Mordio schrien, sobald wieder eine Leiche anfiel. Vance zog seine Sache durch, und wenn sich Carol Jordan und ihr Schoßhund Tony nicht eingemischt hätten, wäre er immer noch dabei, das zu tun, was er am besten konnte. Kein Wunder, dass er auf Rache aus war. An seiner Stelle hätte sie genauso empfunden.
Vanessa lachte bösartig in sich hinein. Würde sie jemals laut aussprechen, was sie dachte, würden sich die ganzen Büroidioten in die Hosen pinkeln. Wenn man in dieser Welt weiterkommen wollte, musste man Kreide fressen. Jacko Vance hatte auch in dieser Beziehung eine eindrucksvolle Show abgeliefert. Das musste sie anerkennen. Mit seiner Wohltätigkeitsarbeit und seiner angeblichen Sterbebegleitung hatte er alle davon überzeugt, dass er nahezu ein Heiliger war.
Na ja, die Jordan hatte er nicht überzeugt. Und Vance hielt Tony offenbar ebenfalls für verantwortlich. Aber sein Haus niederbrennen? Allein das zeigte doch schon, was für ein Versager ihr Sohn war. In Jordans Leben gab es wenigstens Menschen, deren Verlust ihr weh tun würde. Alles, was Tony hatte, war ein Haus. Wenn man allerdings wirklich glaubte, dass Tony die Art Mensch war, den dieser materielle Verlust schmerzen würde, dann hatte man seine Hausaufgaben nicht richtig gemacht.
Als sie weiter darüber nachdachte, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Was wäre, wenn das Haus erst der Anfang war? Was wäre, wenn Vance nicht schlampig recherchiert hatte? Carol Jordan hatte ihren Bruder verloren. Was wäre, wenn auch Tony jemanden verlieren sollte, der mit ihm verwandt war?
Tony hatte gerade den Autobahnring um Manchester erreicht, als sein Telefon klingelte.
Als er Carols Namen
Weitere Kostenlose Bücher