Vergessene Stimmen
dem Flur.
Gleich darauf kamen von dort zwei Streifenpolizisten ins Wohnzimmer. Sie hielten ihre Pistolen an der Seite. Jetzt entspannte sich auch Bosch und ließ seine Waffe sinken.
»Alles klar«, sagte der Streifenpolizist mit den P2-Streifen an der Uniform. »Die Tür war offen, als wir hergekommen sind. Deshalb sind wir sofort ins Haus. Hinten im Schlafzimmer ist etwas, was Sie sich ansehen sollten.«
Die Streifenpolizisten gingen voraus, und Bosch und Rider folgten ihnen. Sie gingen einen kurzen Flur hinunter, von dem zwei offene Türen abgingen, die in ein Bad und ein kleines Schlafzimmer führten, das als Arbeitszimmer diente. Sie betraten das Schlafzimmer, und der P2 deutete auf einen länglichen Kasten aus Holz, der aufgeklappt auf dem Bett lag. Der Schaumstoff, mit dem der Kasten ausgekleidet war, hatte eine Vertiefung in Form eines langläufigen Revolvers. Die Vertiefung war leer, die Waffe herausgenommen. Im Schaumstoff war noch eine kleine rechteckige Aussparung für eine Schachtel mit Munition. Auch sie war leer, aber die Schachtel lag neben dem Kasten auf dem Bett.
»Gibt es jemanden, hinter dem er her ist?«, fragte der P2.
Bosch blickte nicht von dem Kasten auf.
»Wahrscheinlich nur er selbst«, sagte er. »Hat einer von Ihnen Handschuhe dabei? Meine sind im Auto.«
»Hier«, sagte der P2.
Er zog ein Paar Gummihandschuhe aus einer kleinen Tasche an seinem Ausrüstungsgürtel. Er reichte sie Bosch, der sie überstreifte und dann nach der Munitionsschachtel griff. Bosch öffnete sie und ließ den Plastikeinsatz herausgleiten, in dem die Patronen lagen. Eine Patrone fehlte.
Bosch starrte nachdenklich auf die Stelle, wo die Patrone fehlte, als ihn Rider am Ellbogen antippte. Er sah sie an und folgte dann ihrem Blick zu dem Tisch auf der anderen Seite des Betts.
Darauf war ein gerahmtes Foto von Rebecca Lost. Sie stand auf einer Rasenfläche, hinter ihr der Eiffelturm. Sie trug eine schwarze Baskenmütze und hatte ein ungezwungenes Lächeln aufgesetzt. Der Ausdruck in ihren Augen war aufrichtig und zeigte Liebe für die Person, die sie ansah.
»Deshalb war er auf keinem der Fotos im Jahrbuch«, sagte Bosch. »Weil er sie alle gemacht hat.«
Rider nickte. Auch sie war jetzt in den Wellentunnel eingefahren.
»Dort nahm also alles seinen Anfang«, sagte sie. »Dort verliebte sie sich in ihn. Meine wahre Liebe.«
Sie starrten eine Weile in bedrücktem Schweigen vor sich hin, bis der P2 fragte: »Können wir jetzt gehen, Detectives?«
»Nein«, sagte Bosch. »Sie müssen noch hier bleiben und das Haus bewachen, bis die Spurensicherung kommt. Und seien Sie vorsichtig, falls er zurückkommt.«
»Müssen Sie denn weg?«, fragte der P2.
»Ja, wir müssen weg.«
40
Sie gingen rasch zu Boschs Wagen zurück, und wieder setzte sich Rider ans Steuer. »Wohin?«, fragte sie, als sie den Zündschlüssel drehte.
»Zu Muriel Lost«, sagte Bosch. »Und zwar schnell.«
»Worüber denkst du gerade nach?«
»Ich muss die ganze Zeit an das Foto in der Zeitung denken – das mit Muriel Lost auf dem Bett. Auf dem zu sehen war, dass das Zimmer noch genauso aussieht wie damals.«
Rider dachte kurz nach, dann nickte sie.
»Ja.«
Rider hatte verstanden. Aus dem Foto wurde ersichtlich, dass Rebeccas Zimmer seit dem Abend ihrer Entführung unverändert geblieben war. Vielleicht hatte sein Anblick in Stoddard etwas ausgelöst. Die Sehnsucht nach etwas lange Verlorenem. Das Foto war wie eine Oase, eine Erinnerung an einen vollkommenen Ort, an dem alles in Ordnung gewesen war.
Rider gab Gas, und der Wagen schoss nach vorn. Bosch klappte sein Handy auf, rief in der Zentrale an und forderte erneut Verstärkung an, diesmal zu Muriel Losts Haus. Außerdem aktualisierte er die Suchmeldung für Stoddard, den er jetzt als bewaffnet und gefährlich und möglicherweise 5150 beschrieb – das bedeutete psychisch instabil. Als er das Gespräch beendete, waren sie nicht mehr weit vom Haus der Losts entfernt. Sie würden als Erste dort eintreffen. Er rief Muriel Lost an, aber es hob niemand ab. Als sich der Anrufbeantworter einschaltete, stellte er das Handy aus.
»Es geht niemand dran.«
Fünf Minuten später bogen sie in den Red Mesa Way ein, und Boschs Blick fiel sofort auf das silberne Auto, das in einem abenteuerlichen Winkel vor dem Haus der Losts am Straßenrand stand. Es war der Lexus, der auf dem Schulparkplatz auf ihn zugerast war. Rider hielt neben ihm an, und wieder sprangen
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