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Vergessene Stimmen

Titel: Vergessene Stimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Connelly
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verschwand dann zwischen den Regalen. Keine Minute später kam er mit drei Jahrbüchern zurück und legte sie auf den Tisch. Bosch sah, dass alle Veritas und das jeweilige Jahr auf dem Deckel stehen hatten. Stoddard hatte die Jahrbücher von 1986, 1987 und 1988 gebracht.
    »Das sind die letzten drei Jahre«, flüsterte Stoddard. »Ich erinnere mich, dass sie von der ersten Klasse an hier war. Wenn Sie also auch noch frühere Jahrgänge einsehen wollen, sagen Sie es mir einfach. Wir haben sie alle hier.«
    Bosch schüttelte den Kopf.
    »Nein danke, vorerst genügt uns das vollauf. Bevor wir gehen, kommen wir noch mal im Sekretariat vorbei. Wir müssen uns von Mrs. Atkins noch die Adresse holen.«
    »Gut, dann lasse ich Sie jetzt mal allein.«
    »Ach, könnten Sie uns vielleicht noch sagen, wo Mrs. Sables Klassenzimmer ist?«
    Stoddard sagte ihnen die Nummer des Zimmers und wie sie von der Bibliothek dorthin kämen. Dann verabschiedete er sich, um ins Sekretariat zurückzukehren. Bevor er die Bibliothek verließ, flüsterte er den Jungen an einem Tisch bei der Tür kurz etwas zu, worauf die Jungen nach den Rucksäcken griffen, die auf dem Boden lagen, und sie unter den Tisch zogen, damit niemand darüber stolperte. Die Art, wie sie ihre Schulranzen einfach an Ort und Stelle fallen gelassen hatten, erinnerte Bosch an die Art, wie sie es in Vietnam gemacht hatten – einfach da, wo sie gerade gestanden hatten, ohne irgendeinen weiteren Gedanken, als die Last von ihren Schultern zu bekommen.
    Nachdem Stoddard gegangen war, schnitten die Jungen Grimassen in Richtung der Tür, durch die er verschwunden war.
    Rider nahm das Jahrbuch von 1988, und Bosch griff nach dem von 1986. Er rechnete nicht damit, etwas Brauchbares darin zu finden, nachdem Mrs. Atkins seine Theorie über den Haufen geworfen hatte, dass Roland Mackey die Hillside Prep besucht hatte, aber eine Weile vor dem Mord von der Schule abgegangen war. Er hatte sich bereits damit abgefunden, dass die Verbindung zwischen Mackey und Becky Lost – falls überhaupt eine bestand – woanders zu finden wäre.
    Er rechnete im Kopf nach und blätterte dann im Jahrbuch, bis er zu den Fotos der achten Klasse kam. Er hatte Becky Losts Bild rasch gefunden. Sie hatte Zöpfe und eine Zahnspange. Sie lächelte, sah aber aus, als trete sie gerade in die Phase vorpubertärer Unbeholfenheit ein. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie über ihr Aussehen im Jahrbuch begeistert gewesen war. Dann hielt er auf den Gruppenfotos, auf denen die Clubs und Organisationen der Klasse zu sehen waren, nach ihr Ausschau und verschaffte sich auf diese Weise ein Bild von ihren außerlehrplanmäßigen Aktivitäten. Sie spielte Fußball und war auf den Fotos der Schülermitverwaltung und des Clubs für Natur- und Geisteswissenschaften zu sehen. Auf allen Fotos war sie entweder in der hinteren Reihe oder auf der Seite. Bosch fragte sich, ob sie dort vom Fotografen hingestellt worden war oder ob sie sich dort am wohlsten gefühlt hatte.
    Rider ließ sich mit dem Jahrbuch von 1988 mehr Zeit. Sie ging es Seite für Seite durch, und einmal, als sie zum Lehrerkollegium kam, hielt sie es für Bosch hoch und deutete auf ein Foto des jungen Gordon Stoddard, der damals wesentlich längeres Haar gehabt und keine Brille getragen hatte. Außerdem sah er schlanker und kräftiger aus.
    »Sieh dir das mal an«, sagte sie. »Niemand sollte alt werden.«
    »Und jeder sollte die Chance dazu kriegen.«
    Bosch nahm sich das Jahrbuch von 1987 vor und stellte fest, dass die Fotos von Becky Lost jetzt ein Mädchen zeigten, das aufzublühen schien. Ihr Lächeln war zuversichtlicher, nicht mehr so verhalten. Falls sie noch eine Zahnspange trug, war sie nicht mehr zu sehen. Auf den Gruppenfotos war sie nach vorn und in die Mitte gerückt. Auf den Schülermitverwaltungsfotos war sie noch keine Klassensprecherin, aber sie hatte die Arme zu einer selbstbewussten Pose verschränkt. Ihre Haltung und ihr fester Blick verrieten Bosch, dass sie es zu etwas bringen würde. Nur hatte sie jemand daran gehindert.
    Bosch blätterte noch ein paar Seiten weiter, dann klappte er das Buch zu. Er wartete auf die Glocke, damit sie mit Bailey Koster-Sable sprechen könnten.
    »Nichts?«, fragte Rider.
    »Nichts Brauchbares«, sagte er. »Aber es kann nicht schaden, sie zu sehen, wie sie damals war. In ihrer gewohnten Umgebung, In ihrem Element.«
    »Ja. Sieh dir das mal an.«
    Sie saßen sich gegenüber. Rider drehte das Jahrbuch von 1988 so zu

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