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Vergessene Stimmen

Titel: Vergessene Stimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Connelly
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inzwischen wesentlich älter sei. Schließlich traf Bosch auf einen Mann, der ohne Umschweife sagte: »Das ist doch der Chef«, und auf das Metro Shelter zeigte.
    Das Metro war eins der kleinen Satelliten-Asyle, die sich um die Heilsarmee und die Los Angeles Mission scharten und in erster Linie diejenigen Obdachlosen versorgten, die die großen Einrichtungen nicht mehr bewältigten, insbesondere in den Wintermonaten, wenn das wärmere Wetter in L.A. für regen Zustrom aus den kälteren nördlichen Regionen sorgte. Da diese kleineren Anlaufstellen nicht über die Mittel verfügten, drei Mahlzeiten am Tag bereitzustellen, hatten sie sich nach gegenseitiger Absprache auf eine bestimmte Mahlzeit spezialisiert. Im Metro Shelter war dies das Frühstück, das täglich ab 7 Uhr ausgegeben wurde. Als Bosch dort ankam, reichte die Schlange wankender, abgerissener Männer und Frauen bis auf die Straße hinaus, und die langen Tischreihen im Innern waren bis auf den letzten Platz besetzt. Das Metro war dafür bekannt, dass es dort das beste Frühstück im Nickel gab.
    Bosch hatte sich mithilfe seiner Dienstmarke einen Weg nach drinnen gebahnt und Lost rasch in der Küche hinter den Serviertischen entdeckt. Er schien nicht für eine bestimmte Aufgabe zuständig zu sein, sondern beaufsichtigte die Zubereitung der Speisen generell. Wie es aussah, schmiss er den Laden. Er war ordentlich gekleidet: zweireihige weiße Kochbluse, dunkle Hose, fleckenlose, über die Knie reichende weiße Schürze und eine hohe Kochmütze.
    Das Frühstück bestand aus Rühreiern mit rotem und grünem Paprika, Kartoffelpuffern, Maisgrütze und Wurstaufschnitt. Es sah nicht nur gut aus, es roch auch gut. Da Bosch keine Zeit hatte verlieren wollen, war er von zu Hause losgefahren, ohne etwas zu essen. Rechts von der Schlange gab es Kaffee, den man sich aus zwei großen Kannen selbst einschenken konnte. Das Gestell daneben enthielt angeschlagene und im Lauf der Zeit vergilbte Tassen aus dickem Porzellan. Bosch nahm sich eine davon und füllte sie mit brühheißem Kaffee, an dem er vorsichtig nippte, während er wartete. Als Lost mit einer heißen und schweren Pfanne mit frischen Rühreiern, die er mit dem Saum seiner Schürze hielt, zum Serviertisch kam, rief Bosch über den Lärm der Schöpflöffel und Stimmen hinweg: »Hallo, Chef.«
    Lost sah zu ihm herüber, und Bosch konnte erkennen, dass ihm sofort klar wurde, dass Bosch kein »Kunde« war. Wie am Abend zuvor war Bosch leger gekleidet, aber er glaubte, Lost könnte dennoch gespürt haben, dass er Polizist war. Er löste sich vom Serviertisch und näherte sich Bosch. Aber er kam nicht ganz bis zu ihm. Auf dem Fußboden schien sich eine unsichtbare Linie zu befinden, die Küche und Essbereich voneinander trennte. Lost überquerte sie nicht. Er stand da und hielt mit seiner Schürze die fast leere Servierpfanne, die er vom Warmhaltetisch genommen hatte.
    »Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte er.
    »Ja, hätten Sie vielleicht kurz Zeit? Ich würde gern mit Ihnen sprechen.«
    »Nein, ich habe nicht kurz Zeit. Wir sind mitten beim Frühstück.«
    »Es geht um Ihre Tochter.«
    Bosch sah das leichte Flackern in Losts Blick. Er senkte ihn kurz, dann hob er ihn wieder.
    »Sind Sie von der Polizei?«
    Bosch nickte.
    »Könnte ich nur den gröbsten Ansturm noch hinter mich bringen? Wir tragen gerade die letzten Behälter auf.«
    »Kein Problem.«
    »Möchten Sie was essen? Sie sehen aus, als wären Sie sehr hungrig.«
    »Ähm …«
    Bosch blickte sich um. Er wusste nicht, wo er an den überfüllten Tischen einen Platz finden könnte. In diesen Suppenküchen herrschten dieselben ungeschriebenen Gesetze wie in Gefängnissen. Berücksichtigte man dann auch noch das hohe Maß an psychischen Störungen unter Obdachlosen, konnte man jemandem schon zu nahe treten, indem man sich den falschen Platz aussuchte.
    »Kommen Sie mit«, sagte Lost. »Hinten haben wir auch einen Tisch.«
    Bosch wandte sich wieder Lost zu, aber der war bereits losgegangen. Bosch folgte ihm durch die Küche in ein Hinterzimmer, in dem ein leerer Edelstahltisch mit einem vollen Aschenbecher darauf stand.
    »Nehmen Sie Platz.«
    Lost nahm den Aschenbecher und hielt ihn hinter seinen Rücken. Es war nicht so, als versteckte er ihn. Es war, als wäre er ein Kellner, der seinem Gast einen perfekten Tisch anbieten wollte. Bosch dankte ihm und setzte sich.
    »Ich bin gleich wieder da.«
    Es schien, als brächte Lost in weniger als einer Minute einen

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