Vergessene Stimmen
vollkommen blind. 1988 schwärte zwar dicht unter der Oberfläche eine Entzündung rassistischer Animositäten, aber die Stadt schaute einfach weg. Ein paar Jahre später sollte dann die Haut über dem Eiterherd aufplatzen und die Stadt von dreitägigen Unruhen heimgesucht werden, wie sie das Land ein Vierteljahrhundert lang nicht mehr erlebt hatte. Bosch musste deshalb in Betracht ziehen, dass auf die Ermittlungen im Mordfall Rebecca Lost von oben Einfluss genommen worden war, um diese Entzündung nicht zum Ausbruch kommen zu lassen.
»Sind Sie so weit?«
Bosch blickte auf und sah Robert Lost dastehen. Vor Anstrengung war sein Gesicht schweißüberströmt. Er hielt die Kochmütze jetzt in der Hand. Sein Arm zitterte noch immer leicht.
»Aber sicher. Möchten Sie sich setzen?«
Lost nahm gegenüber Bosch Platz.
»Ist es hier immer so?«, fragte Bosch. »So voll, meine ich?«
»Jeden Morgen. Heute haben wir einhundertzweiundsechzig Essen ausgegeben. Eine Menge Leute zählen auf uns. Nein, halt, das heißt einhundertdreiundsechzig Essen. Sie habe ich ganz vergessen. Wie war das Frühstück?«
»Verdammt gut. Vielen Dank! Ich hatte ein richtiges Loch im Bauch.«
»Meine Spezialität.«
»Nicht ganz das Gleiche, wie für Johnny Carson und die Malibu-Szene zu kochen, hm?«
»Allerdings. Aber dem trauere ich nicht nach. Ganz und gar nicht. Das war nur eine von vielen Stationen auf der Suche nach meiner wahren Bestimmung. Aber dank unserem Herrn Jesus Christus bin ich jetzt hier, und hier ist, wo ich sein möchte.«
Bosch nickte. Ob beabsichtigt oder nicht, gab ihm Lost zu verstehen, dass er durch die Intervention des Glaubens zu seinem neuen Leben gefunden hatte. Bosch hatte festgestellt, dass häufig diejenigen, die am meisten darüber sprachen, am schnellsten wieder umfielen.
»Wie haben Sie mich gefunden?«, fragte Lost.
»Meine Partnerin und ich haben gestern mit Ihrer Frau gesprochen, und sie hat uns erzählt, dass Sie hier unten gelebt haben, als sie das letzte Mal von Ihnen gehört hat. Deshalb habe ich gestern Abend nach Ihnen zu suchen begonnen.«
»An Ihrer Stelle würde ich hier nachts lieber nicht auf die Straße gehen.«
In seiner Stimme schwang ein leichter karibischer Singsang mit. Aber das war eine Eigenheit, die im Lauf der Zeit schwächer geworden zu sein schien.
»Ich hatte eigentlich erwartet, Sie würden in der Schlange stehen, nicht die Schlange mit Essen versor gen.«
»Bis vor kurzem stand ich auch noch in der Schlange. Aber ich musste erst einmal dort stehen, um jetzt da zu stehen, wo ich heute bin.«
Bosch nickte wieder. Er hörte diese Ein-Tag-nach-dem-anderen-Mantras nicht zum ersten Mal.
»Wie lange sind Sie schon trocken?«
Lost lächelte.
»Diesmal? Etwas über drei Jahre.«
»Schauen Sie, ich möchte Sie nicht zwingen, diese traumatische Erfahrung von vor siebzehn Jahren noch einmal zu durchleben, aber wir rollen den Fall neu auf.«
»Nein, nein, kein Problem, Detective. Ich rolle den Fall jeden Abend neu auf, wenn ich die Augen schließe, und jeden Morgen, wenn ich zu Jesus bete.«
Bosch nickte wieder.
»Wollen Sie gleich hier reden oder einen Spaziergang machen oder rüber zum Parker Center fahren, wo wir uns ein ruhiges Zimmer suchen könnten?«
»Wir können ruhig hier bleiben. Hier fühle ich mich recht wohl.«
»Gut, dann will ich Ihnen erst mal ein bisschen erzählen, was sich inzwischen alles getan hat. Ich arbeite für die Einheit für offene und ungelöste Fälle. Im Moment befassen wir uns gerade noch einmal mit dem Tod Ihrer Tochter, weil uns einige neue Erkenntnisse dazu vorliegen.«
»Was für Erkenntnisse?«
Bosch beschloss, die Sache bei Lost anders aufzuziehen. Während er der Mutter Verschiedenes vorenthalten hatte, würde er dem Vater alles sagen.
»Wir haben eine Übereinstimmung zwischen dem Blut, das an der Tatwaffe gefunden wurde, und einer Person, von der wir ziemlich sicher sind, dass sie zum Zeitpunkt des Mordes oben in Chatsworth gewohnt hat. Es ist eine DNS-Übereinstimmung. Wissen Sie, was das ist?«
Lost nickte. »Ja. Wie bei O.J.«
»Nur ist sie in diesem Fall eindeutig. Sie besagt zwar nicht, dass er derjenige ist, der Rebecca ermordet hat, aber sie besagt, dass er in engem Zusammenhang mit der Tat stand, und das bringt uns der Sache schon mal näher.«
»Wer ist es?«
»Dazu komme ich gleich. Aber zuerst, Mr. Lost, möchte ich Ihnen ein paar Fragen stellen, die Sie und den Fall betreffen.«
»Wieso mich?«
Bosch spürte,
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