Vergesst Auschwitz!: Der deutsche Erinnerungswahn und die Endlösung der Israel-Frage (German Edition)
macht mich nachdenklich.«
Und dann? Was tut Gysi dann? Macht er sich Gedanken anstelle eines Abendbrots? Geht er in sich? Fragt er sich und seine Genossen, wo die »Leidenschaft bei der Kritik an Israel« herkommt, die es inzwischen nicht einmal mehr bei der Kritik an den USA gibt? Nein, tut er nicht, er geht zur Tagesordnung über, obwohl er ziemlich nahe am Kern der Sache war: Der Antisemitismus ist eine Leidenschaft.
Einerseits, sagt Gysi, »können (wir) über alles nachdenken und über alles diskutieren, es gibt kein Verbot, Israel zu kritisieren«, andererseits, »geht (es) nicht, dass Deutsche nach dem Holocaust Juden das Recht auf einen jüdischen Staat streitig machen … Wir müssen Grenzen der Kritik an Israel setzen, die mit dem Holocaust zu tun haben.«
Was bedeutet: Ohne den Holocaust könnte man den Juden sehr wohl das Recht auf einen jüdischen Staat streitig machen, ohne den Holocaust müsste man der Kritik an Israel keine Grenzen setzen.
Gysi mag schlau sein, klug ist er nicht. Denn genau darum geht es seinen Genossen: die »Israelkritik« zu entgrenzen, indem sie den »Juden und Jüdinnen« sagen, sie sollen aufhören, den Holocaust zu instrumentalisieren und zu missbrauchen. Oder, wie es ein Besucher der »Kölner Klagemauer« kompakt auf den Punkt brachte: »Hitler ist Vergangenheit, aber Israel ist Gegenwart. Nicht noch einmal.« Es ist die Erinnerung an den Holocaust, welche die Deutschen dazu verpflichtet, darauf zu achten, dass die »Juden und Jüdinnen« nicht rückfällig werden. Und die sie daran hindert, bekennende Antisemiten zu sein. Auf die Frage »Warum sind Sie kein Antisemit?« antwortete der hessische Linke-Abgeordnete Wolfgang Gehrcke, ein leidenschaftlicher »Israelkritiker«, in einem Interview mit dem Hessischen Rundfunk: »Zum einen, weil ich viel zu viele Freunde in Israel habe. Aber mehr noch: Die Geschichte des Holocaust, der industriellen Massenvernichtung von Juden in Deutschland und Europa, ist so einmalig, dass sie mit nichts anderem vergleichbar ist.«
Der Holocaust ist ein Pedal, mit dem man bremsen und zugleich Gas geben kann. Einerseits legt er den Deutschen eine gewisse Zurückhaltung auf, andererseits treibt er sie dazu an, sich der Juden noch einmal anzunehmen, diesmal zu ihrem eigenen Schutz. Auch Gehrcke meint es nur gut: »Man muss das Recht haben, die Politik der israelischen Regierung zu kritisieren. Und ich habe kaum eine Regierung kennengelernt, die so beständig gegen die eigenen Interessen Israels handelt wie die aktuelle Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Das als Antisemitismus zu bezeichnen, ist schlichtweg Unsinn.«
Normalerweise vertritt die Linkspartei den Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten, besonders nachdrücklich gegenüber Staaten wie Kuba und Afghanistan. Im Falle von Israel allerdings »muss man das Recht haben, die Politik der israelischen Regierung kritisieren« zu können. Sonst wird bei den Gehrckes die Milch sauer und bei den Gysis der Champagner warm. Wer, wenn nicht sie, wäre besser geeignet, der israelischen Regierung zu sagen, dass sie »beständig gegen die eigenen Interessen Israels handelt«, natürlich immer vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte und der deutschen Fürsorgepflicht gegenüber Israel.
Niemand spricht Gehrcke, Gysi, Groth, Höger, Paech und Genossen das Recht ab, die Politik der israelischen Regierung zu kritisieren. Aber es zwingt sie auch niemand dazu, es mit einer so exklusiven Leidenschaft zu tun, die keinen Raum übrig lässt für die vielen anderen Ungerechtigkeiten dieser Welt. Und wenn es möglich ist, die Politik der israelischen Regierung zu kritisieren, dann muss es auch möglich sein, die Motive jener zu hinterfragen, die es tun. Immer unter Berufung auf den Holocaust, der ihnen die Lizenz gibt, sich als moralische Instanz ausgerechnet gegenüber den Juden aufzuführen.
Das Problem der Linken mit Israel hat noch eine andere Facette. Die Linke hat sich immer als Schutzpatronin der Entrechteten und Unterprivilegierten verstanden. Da der Vormund, dort die Mündel. Erst waren es die ausgebeuteten Arbeiter, die nur darauf warteten, »zur Sonne, zur Freiheit« geführt zu werden, dann die Opfer des Kolonialismus in der Dritten Welt; heute – nachdem aus den Proletariern Proleten geworden sind, die ihre Freizeit unter der mallorquinischen Sonne genießen, und die Völker in der Dritten Welt ihre Ausbeutung in die eigenen Hände
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