Vergib uns unsere Sünden - Thriller
dann würde er womöglich reagieren und jemanden erschießen, der nicht erschossen werden musste. Zwischen seinen Schulterblättern hatte sich ein Schweißfilm gebildet. Er strich mit dem Zeigefinger an der Innenseite seines Hemdkragens entlang. Er musste sich entscheiden, der Unentschlossenheit ein Ende machen. Was konnte es schaden, der Sache auf den Grund zu gehen? Er musste es tun. In dieser Situation blieb ihm keine Wahl. Das war Polizeiarbeit. Man suchte den Ärger, man ging den Dingen auf den Grund, man hatte seinen Platz innerhalb der Tatortabsperrung und wusste Bescheid über das, was passiert war.
Carl Oliver atmete tief durch, legte die Hand auf den Griff der Waffe im Halfter und ging den Gang entlang zu John Robeys Wohnungstür.
»Sie erreichen ihn nicht«, sagte Roth. »Scheint nicht im Auto zu sitzen. Sie kommen durch zu seinem Funkgerät, aber er meldet sich nicht.«
»Scheiße«, sagte Miller. Er musste einem Auto ausweichen, das aus einer Parklücke fuhr, und schaltete die Sirene an. Links die Einmündung der O Street, vor ihnen P Street, dann Franklin Avenue. Miller schlug mit den Handballen auf das Lenkrad. In jeder Richtung hatten sie sich festgefahren. Alle Wege führten zu Halb-Antworten, Beinahe-Wahrheiten. Etwas führte zu etwas anderem, das wieder zu etwas anderem führte. Aber es waren alles nur Teile eines viel größeren Bildes, eines Bildes, dessen Umrisse Miller nach und nach zu erkennen meinte. Er wollte nicht einmal mutmaßen, was es sein könnte; er wollte seiner Phantasie nicht freien Lauf lassen, denn das würde die Dinge, die ohnehin schon
kompliziert genug waren, nur weiter verkomplizieren. Jetzt wollte er zu Robeys Wohnung fahren, um herauszufinden, ob jemand drinnen war oder ob Oliver sich getäuscht hatte. Er wollte, dass Cohen und Metz mit dem Durchsuchungsbeschluss kamen, damit sie endlich hineingehen konnten. Er wollte, dass die Bücher ihre Geister preisgaben, die Dinge, die Catherine Sheridan die Welt wissen lassen wollte, und danach sollte es endlich ein Ende haben.
Das vor allem: Der Albtraum sollte ein Ende haben.
Der Verkehrsstrom schien plötzlich nach links in die Franklin abzuschwenken. Vor ihnen leerte sich die Straße.
»Los!«, sagte Roth, und Miller drückte auf das Gaspedal, um die letzten zweihundertfünfzig Meter bis zu ihrem Ziel zurückzulegen.
Carl Oliver stand vor Robeys Wohnungstür und schloss einen Moment die Augen, bevor er langsam die Hand hob. Er klopfte an, trat zurück, legte die Hand auf den Griff der Waffe an seiner Seite. Unüberhörbar galoppierte sein Herz sich selbst voraus, und der Puls bemühte sich, Schritt zu halten.
Er ließ ihm gute dreißig Sekunden Zeit. Da war nichts. Nicht das leiseste Geräusch von drinnen.
Er hob die Hand und klopfte ein zweites Mal, diesmal lauter, und nach zehn Sekunden rief er: »Polizei! Machen Sie auf, Sir!«
Diesmal war etwas zu hören, ein deutliches Geräusch von drinnen.
Oliver blieb das Herz stehen. Bis hierhin war es eine Vermutung gewesen: dass jemand zurückgekommen war, dass jemand in die Wohnung gegangen war, dass er auf sein Klopfen eine Antwort bekommen würde. Jetzt war es Gewissheit. Jetzt weckte die Situation ein ganz anderes Register an Gefühlen und Gedanken.
Oliver trat einen Schritt zurück, überlegte, ob er sich seitlich von der Tür aufstellen sollte. Er war nicht vertraut mit solchen Szenarios. Sicher, er hatte Filme gesehen, und in der Polizeiakademie war ihnen flüchtig erklärt worden, was in solchen Situationen zu tun sei. Aber ein noch so gründliches Training mit anderen Anfängern konnte einen nicht auf die Gefühle vorbereiten, die man in solch einem Moment hatte. Das hier war mit nichts zu vergleichen, was er in seinem Dienst bisher erlebt hatte. Er war weder ein altgedienter Haudegen noch ein Ex-GI. Er hatte keinen Dienst im Irak getan. Er wusste nicht, wie man mit den Gefühlen umging, die ihn jetzt überkamen. Er wusste nur, dass womöglich wieder eine Frau sterben musste, wenn er das hier in den Sand setzte. Vielleicht sogar zwei. Oder noch mehr.
Oliver spürte, dass der da drinnen jetzt direkt hinter der Tür war, und dann hörte er die Stimme des Mannes.
»Wer ist da?«
»Polizei, Sir. Die Polizei. Öffnen Sie die Tür.«
»Warum? Was wollen Sie?«
»Sind Sie das, Mr Robey?«
Schweigen.
»Ich muss Sie bitten, sich zu identifizieren, Sir. Dies ist die Wohnung von Mr Robey. Sind Sie John Robey?«
Immer noch Schweigen.
Oliver klopfte das Herz
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