Vergib uns unsere Sünden - Thriller
hatte, und das war das Letzte, was er gewollt hatte. Wenn Harriet erst einmal glaubte, dass Miller etwas vor ihr verbarg, würde sie ihn noch erbarmungsloser ausquetschen. Sonst ging es ja meistens um Frauengeschichten, aber diesmal …
»Also, schießen Sie schon los«, sagte sie.
Miller griff nach ihrer Hand und suchte ihren Blick. »Sind Sie schon mal in einer Situation gewesen, wo Sie Angst um Ihr eigenes Leben bekommen haben?«
»Angst um mein Leben?«, sagte sie. »Robert, ich bin dreiundsiebzig Jahre alt. Ich war acht, als die Deutschen gekommen sind und meine Eltern ermordeten. Ich war im Konzentrationslager, ist Ihnen das klar?«
»Das weiß ich, Harriet, das weiß ich ja.«
»Ich war in Situationen, wo ich mit einem kleinen Kanten Brot in der Hand dastand, und das wäre Grund genug gewesen, mich auf der Stelle zu erschießen. Aber ich habe ihn festgehalten, und ich hab mir nichts anmerken lassen, weil ich ihn meiner Schwester bringen wollte.«
»Ich wollte ja gar nicht …«
»Hey!«
Miller blickte auf.
»Wie lang sind wir jetzt eine Familie, he? Was ist denn hier eigentlich los? Ich meine, was kann denn im schlimmsten Fall passieren? Wenn es wirklich so schlimm ist, wie Sie sagen, dann kann es ja kaum noch schlimmer kommen, und das sage ich Ihnen mit meinen dreiundsiebzig Jahren! Manchmal möchte ich mich nur noch ins Bett legen und so lange nichts mehr essen, bis ich tot bin, verstehen Sie das? Manchmal ist mir echt alles egal, aber wissen Sie, was Zalman dann sagt?«
Miller schüttelte den Kopf.
»Er sagt, steh auf und mach dich an die Arbeit, sonst bist du am Ende kein Stück besser als der faule Sack, der da oben über unserem Laden wohnt.«
Miller sah sie an, zog die Stirn in Falten, bis er begriff, wen sie damit meinte.
Sie fingen beide so laut an zu lachen, fanden es so brüllend komisch, dass selbst Zalman zu ihnen nach hinten kam. Er blieb im Türrahmen stehen und schaute sie an.
»Ich hoffe nur, ihr lacht nicht über mich«, sagte er.
»Über dich?«, sagte Harriet. »Ach, wenn du doch nur so komisch wärst, dass du mich so zum Lachen bringen könntest.«
»So, so«, Zalman grinste verschmitzt und ging wieder nach vorne, um sich um die Kundschaft zu kümmern.
»Nun erzählen Sie schon.« Harriet ließ nicht locker, als sie sich wieder beruhigt hatten. »Erzählen Sie mir, was es so Schlimmes gibt, dass es Sie so völlig fertigmacht.«
Miller wich ihrem Blick aus. Er sah auf seine Hände. Er machte den Mund auf, um etwas zu sagen, ohne zu wissen, was er eigentlich sagen wollte, aber dann fing er an zu reden, und auch wenn er sich dabei sehr zurückhielt, keine Namen nannte, keine Details, erzählte er Harriet Shamir doch so einiges
von der letzten Woche. Und als er damit fertig war und ihr, soweit möglich, alles über die toten Frauen, über längst vergangene Kriege und über Politik und Drogen erzählt hatte, tätschelte Harriet seine Hand und sagte: »Ich erzähle Ihnen jetzt mal, wie ich die Dinge sehe, und Sie dürfen sich aussuchen, was Sie davon gebrauchen können.«
»Und das wäre?«
»Es gab da mal diesen Pastor. Ich erinnere mich nicht an seinen Namen oder zu welcher Kirche er gehört hat - ist auch nicht so wichtig. Jedenfalls war er im KZ, und viele Jahre später hat er dann diesen Text geschrieben. Da heißt es, zuerst haben sie die Juden geholt, aber er hat geschwiegen, er war ja kein Jude. Klar so weit? Er hat einfach die Klappe gehalten, um nicht aufzufallen. Dann haben sie die Polen geholt, aber er hat geschwiegen, er war ja kein Pole. Dann haben sie die Akademiker und die Intellektuellen geholt, und er hat immer noch nichts gesagt, denn er war ja weder das eine noch das andere. Er hat einfach weiter geschwiegen. Dann haben sie die Künstler und die Dichter geholt, Sie wissen schon, das ganze Künstlervolk. Und weil er sich auch nicht zu denen zugerechnet hat, hat er wieder den Mund gehalten …«
Miller nickte. »Das kommt mir bekannt vor … Schließlich sind sie gekommen, um ihn zu holen, und niemand hat etwas gesagt, weil niemand mehr da war, der ihm hätte helfen können.«
»Genau so war es.«
»Das verstehe ich ja«, sagte Miller, »ich verstehe nur nicht, was das mit mir zu tun hat.«
Harriet lächelte. »Mir ist egal, was man heute über Nazi-Deutschland redet. Nazi-Deutschland war Nazi-Deutschland. Und auch davor hat es schon eine verdammt lange Geschichte solcher Verfolgungen gegeben, und es hat auch danach noch lange nicht aufgehört. Man
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