Vergib uns unsere Sünden - Thriller
Frau nicht zu existieren scheint, meine ich.«
Miller lachte eigenartig. »Kein Mensch existiert nicht. Das ist ein Fehler im System, Al, glaub’s mir. Sie hat eine Sozialversicherungsnummer, ihr Gebiss ist registriert, sie hat Fingerabdrücke und eine DNS und Gott weiß was sonst noch alles.«
Roth widersprach nicht. Er fragte nur: »Und wohin jetzt?«
» Washington Post .«
»Adresse?«
»Elf-fünfzig Fifteenth Street - ungefähr drei Blocks östlich der Metrostation Farragut-North.«
Roth ließ den Motor an. Miller sah auf die Uhr.
Miller hatte sich an Menschen gewöhnt, die sich allein über ihr Aussehen definierten. Er wunderte sich nicht mehr darüber. Die Empfangsdame der Washington Post - eine hübsche junge Frau, Ende zwanzig, das Haar zu einem schulterlangen Bubikopf geschnitten - lächelte ihnen entgegen, und als sie vor ihr am Tresen standen, sagte sie: »Meine Herren?«, als wüsste sie bereits, dass in irgendeiner Form Ungemach ins Haus stand.
Miller zog das Etui mit der Marke heraus. Die Frau wollte sie nicht sehen.
Miller warf einen Blick auf ihr Namensschild. Carly Newman.
Er nahm den Plastikbeutel aus der Innentasche seines Jacketts. »Ich habe hier ein Stück von einem Zeitungsartikel, können Sie mir sagen, aus welchem Artikel das ist?«
»Das ganze Blatt steht online«, sagte sie mit leiser Herablassung im Ton. »Washingtonpost dot com. Geben Sie dort ein paar Wörter ein, und das System durchsucht alle Ausgaben bis zurück zu ich weiß nicht welchem Jahrgang.«
»Wären Sie so nett, das für uns tun?«, fragte Miller. Gerne
hätte er Carly - so hübsch sie war - erzählt, dass sie gerade aus der Gerichtsmedizin kamen. Gerne hätte er ihr von einer klugen, attraktiven Frau erzählt und dass jemand es sich nicht hatte nehmen lassen, diese Frau zu erwürgen, erbarmungslos zu schlagen und in einer äußerst entwürdigenden Pose zurückzulassen, obwohl sie ohnehin bald an Krebs gestorben wäre. Das alles hätte er Carly Newman vor ihrer nächsten überheblichen Bemerkung gerne unter die Nase gerieben.
»Selbstverständlich tu ich das für Sie, Officer«, sagte Carly und lächelte, als hätte ihr eine andere Antwort auf der Zunge gelegen.
Miller reichte ihr den Beutel. Sie tippte ein paar Wörter aus dem Artikel ein und wartete.
»Die Überschrift des Artikels lautet: ›Erdrutschsieg Ortegas bei Wahlen in Nicaragua‹. Der Verfasser ist Richard Grantham.« Carly hob den Blick. »Einer unserer festen Redakteure. Politisches Ressort.«
»Drucken Sie ihn mir aus?«, fragte Miller.
»Aber gerne«, antwortete sie. Sie klickte, scrollte, klickte. Unter dem Tresen summte es. Sie brachte eine einzelne Seite zum Vorschein und reichte sie Miller.
Miller überflog sie und sagte zu Roth: »Wahl.«
Roth runzelte die Stirn.
»Das fehlende Wort am Ende, erinnerst du dich? ›Ein Sieg hätte dem venezolanischen Präsidenten Hugo Chavez einen starken Verbündeten in der Region beschert, aber die U.S.-Regierung äußerte bereits ernsthafte Zweifel an der Transparenz der … Wahl.‹ Das Wort, das am Ende des Ausschnitts abgerissen war.«
»Und das Datum?«, fragte Roth.
»Der zehnte.«
»Der Tag, bevor sie getötet wurde?«
»Ist jemand getötet worden?«, fragte Carly Newman, und
als Miller sie anschaute, sah er den Ausdruck, den er so gut kannte. Ein Stück Realität hatte ihr Leben berührt. Etwas Dunkles, Unheimliches, es würde sie eine Weile innehalten und nachdenken lassen, bevor sie es wieder vergaß … Und wenn morgen oder übermorgen, vielleicht auch nächste Woche jemand das Wort »Wahl« in den Mund nahm oder ihr jemand namens Miller über den Weg lief, würde sie sich ganz unvermittelt an die vage und irreale Vergänglichkeit aller Dinge erinnert fühlen.
»Ja«, sagte Miller, »es ist jemand getötet worden.« Er schaute Roth an. Roth streckte die Hand nach dem Ausschnitt aus. Miller fragte, ob Richard Grantham zu sprechen sei, falls sie Fragen an ihn hätten.
»Im Moment nicht«, sagte sie. »Der größte Teil der Tagesschicht ist außer Haus. Jetzt ist nur die Nachtschicht da«, fuhr sie fort. »Aber sonst ist er meistens hier.« Sie lächelte. »Richard ist eine Legende hier im Haus, wissen Sie?«
»Eine Legende?«
»Er hat gefühlte siebenhundert Jahre auf dem Buckel«, sagte Carly. »Und sieht umwerfend aus für sein Alter. Er war schon hier, als Woodward und Bernstein Nixon ins Visier nahmen.«
»Tatsächlich?«, sagte Miller.
»Na klar«, erwiderte sie.
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