Vergib uns unsere Sünden - Thriller
dass sie bei jemand anderem war.«
»Oder in einem Hotel«, sagte Miller. »Aber wie gesagt, das ist nichts, was wir beweisen oder widerlegen können.«
»Das ist euer Job«, sagte Reid.
Miller zögerte einen Augenblick, stand in der hell erleuchteten Küche, in der Catherine Sheridan vor drei Tagen noch Essen gekocht, vielleicht ein Glas Chardonnay getrunken, Radio gehört hatte.
Und dann war Besuch gekommen. Ein Besucher, der vorher schon dreimal das Gleiche getan hatte.
Acht Monate. Vier Tote. Nicht ein einziges Wort.
»Sorry«, sagte Miller. »Ich hatte es ganz vergessen … Die DVD, die gelaufen ist, waren da irgendwelche Fingerabdrücke drauf?«
»Nur ihre«, antwortete Reid. »Tut mir leid.«
Miller seufzte. Er dankte Reid und folgte Roth nach draußen.
Vor einiger Zeit sind Catherine und ich in diese Sozialsiedlung hinausgefahren. Wir haben den Weg über den John Hanson Highway genommen, der Landover Hills mit Glenarden verbindet. Wir haben dort nach einem Mann namens Darryl King gesucht, einem jungen schwarzen Heroinsüchtigen, der eine Tochter namens Chloe hatte. Darryl haben wir nicht angetroffen, aber Chloes Mutter, Natasha Joyce. Chloe war bei ihr. Ein süßer Fratz, sicher nicht älter als vier oder fünf. Hat mich an andere Kinder, andere Zeiten erinnert. Das Reden hat Catherine übernommen. Ich habe das Auto im Auge behalten. Und die Straße. Ich hatte einen Kaugummi im Mund und habe mich nach einer Zigarette gesehnt. Natasha Joyce wusste nicht, wo Darryl King war. Man konnte ihr die Angst an den Augen ablesen. Ich wollte nicht, dass sie Angst hat, aber ich konnte nichts sagen. Hab ihr zwanzig Dollar geschenkt. »Für die Kleine«, habe ich gesagt. »Kaufen Sie ihr was Schönes, ja?« Ich glaube, das waren die einzigen Worte, die ich gesprochen habe.
Wir sind mit leeren Händen wieder weggefahren. Aber ich wusste jetzt, dass Darryl sein Leben nicht mehr im Griff hatte, dass aus ihm das geworden war, was er am meisten gefürchtet hatte.
Als wir wieder wegfuhren, musste ich an meinen Vater
denken, einen Gesichtsausdruck, den er immer öfter bekam und der zum Schluss immer da war: Alles Gute ist vergänglich, kurzlebig, zu schnell vergessen. Der Ausdruck der Überzeugung, dass schon hinter der nächsten Ecke etwas Schlechteres wartete.
Ich dachte an Natasha Joyce, die so viel älter aussah, als sie war. Zu viel Leben in zu kurzer Zeit. Nur spitze Ecken und raue Kanten. Ein Lebensjahrzehnt, zu Bruch gegangen zwischen der neunten und zwölften Klasse. Die vier edlen Wahrheiten des Buddhismus fielen mir ein: Das Leben im Daseinskreislauf ist letztendlich leidvoll, Ursachen des Leidens sind Gier, Hass und Verblendung, erlöschen die Ursachen, erlischt das Leiden, zum Erlöschen des Leids führt der edle achtfache Pfad. Wie dumm ich geworden war, dachte ich. Der alte Witz: Ich kannte einen Mann, der war so dumm, dass sie ihn aus einem Job gefeuert haben, den er gar nicht hatte.
An diese Dinge dachte ich, als wir nach Washington zurückfuhren, durch Chinatown zu der kleinen Wohnung Ecke New Jersey Avenue und Q Street. Catherine ließ mich ein paar Straßen vorher raus. Eine Gewohnheit, die wir seit einigen Monaten pflegten. Sie sagte nicht auf Wiedersehen. Ich auch nicht. Auch das eine Gewohnheit. Ich hob lächelnd die Hand. Sie auch. Ich ging nach Hause. Sie fuhr weiter.
Es dauerte noch eine Weile bis zu Catherine Sheridans Tod, aber dass sie sterben würde, wussten wir.
Lange vorher - bevor ich Catherine Sheridan kennenlernte, noch bevor ich John Robey wurde - war eine andere Geschichte passiert.
Ein Teil der Geschichte handelte von meinem Vater.
Jeder kannte ihn als Big Joe. Big Joe, der Tischler. Also wurde ich zu Little Joe, obwohl ich einen ganz anderen Vornamen hatte. Ich blieb Little Joe, bis mein Vater starb, und erst als alle ganz leise gegangen waren, kam ich zu mir selbst.
»Die Mitte des Baums ist das Kernholz«, lehrte er mich. »Die Wirbelsäule, das Rückgrat, das Skelett.« Er hob ein Stück Holz in die Höhe, drehte es zwischen den Händen, zeigte mir den Querschnitt, die Ringe, dass es zu den Rändern hin leichter wurde. »Das Splintholz ist das Fleisch. Das Fleisch ist schwach, den Verwüstungen durch Zeit und Natur ausgesetzt.«
Er lächelte, legte das Stück Holz hin, drehte sich zu seiner Bank um.
»Wenn etwas dauern soll, muss es vom Herzen aus aufgebaut sein.«
Manchmal sah ich das Holz in der Drehbank rotieren oder still liegen, wenn Beitel oder Fräse ihm ins
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