Vergiftet
Akkorde, die er am liebsten mochte, gemerkt: C Major Seven, halbverminderter es-Moll Major Seven – Akkorde, die danach schrien, dass sie aufgelöst wurden. Aber er suchte den Kontrast, das Verhältnis zwischen Harmonie und Disharmonie, den Moment, wenn aus etwas Schiefem, Falschem etwas Reines und Richtiges wurde. Am liebsten legte er die Finger willkürlich auf die Tasten, bis er etwas fand, das ihm gefiel, zu dem er begleitende Akkorde finden und eine Melodie bilden konnte.
Jetzt hört er kaum die Töne, jedenfalls anfangs nicht, aber sie schwellen an, dringen in ihn ein und zwingen seinen Kopf zuzuhören, die Noten nachhallen zu lassen. Er bekommt Lust, sie noch einmal zu spielen, damit sie ihn aus Raum und Zeit heben, aber seine Finger verkrampfen, er ist nicht in der Lage, sie noch einmal zu heben, sodass die Töne des Akkords zu einem unschönen Klangbrei ineinanderfließen. Am Ende bleibt Chaos, das nur allmählich verebbt.
Unter Aufbietung all seiner Kraft zieht Henning die Finger zurück und wirft die Klappe mit einem Knall zu. Ihm fällt auf, dass er die Luft angehalten hat.
18
Am Montagmorgen hängt Henning seine Jacke auf und setzt sich Iver Gundersen gegenüber an seinen Schreibtisch. Ein Hauch von Nacht hängt noch in seinem Gesicht. Die Tränensäcke unter den Augen sind schlaff, Kinn und Wangen unrasiert, auch wenn es an einigen Stellen so aussieht, als sei der Rasierer zum Einsatz gekommen. Die langen Haare hängen wie Schalfransen über seine Schultern. Die Ellbogenflicken seiner Cordjacke sind verschlissen.
Henning nickt Iver knapp zu und bildet sich ein, Noras Bodylotion über den Tisch hinweg riechen zu können. Dieser verdammte Kokosduft.
»Na, schönes Wochenende gehabt?«, fragt Iver, ohne Henning anzusehen.
»Geht so.«
Henning registriert ein kurzes Nicken. Er fühlt sich nicht bemüßigt, die Frage zurückzugeben, fährt den PC hoch, legt sein Handy neben die Tastatur, schiebt ein paar Blätter beiseite und tippt seinen Namen und sein Passwort ein.
Um sie herum treffen weitere Kollegen ein. Henning hört verschlafenes Grunzen, Begrüßungsphrasen, ein Lachen. Wie er sich dabei auf seine Arbeit konzentrieren soll, ist ihm ein Rätsel.
Die letzte Nacht ist die Hölle gewesen, er hat kaum geschlafen und schon beim Aufwachen hämmernde Kopfschmerzen gehabt, die ihm bis jetzt treu geblieben sind. Dafür hat er gestern noch einiges an Recherchen erledigt, was ihm im Laufe des Tages hoffentlich zugutekommen wird. Die Frage ist nur, wann.
»Kaffee?«
Iver steht auf. Henning schüttelt den Kopf, obwohl ihm ein Kaffee sicher guttun würde. Iver bleibt noch einen Augenblick stehen, ehe er über den Teppichboden schlurft und sich in die Schlange einreiht, von wo er immer wieder zur Abteilung Innenpolitik linst. Sobald Henning in seine Richtung schaut, weicht sein Blick aus.
Henning muss daran denken, wie selbstherrlich Iver in den Wochen nach dem Fall Henriette Hagerup das Schulterklopfen entgegengenommen hat, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Aber sein selbstzufriedenes Siegergehabe verpuffte immer schnell, wenn Henning die Bühne betrat. Dann bekam sein Blick etwas Verklärtes. Dankbarkeit, vielleicht, gemischt mit Schuldgefühlen und einer Art Verlegenheit, weil nur er und Henning die Wahrheit kannten. Vermutlich war das auch der Grund für seine Gereiztheit oder sogar Eifersucht. Seit Iver aus dem Urlaub zurück ist, haben sie höchstens ein paar Sätze gewechselt. Aber Henning spürt, dass etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen schwelt.
»Der Adler hat heute schlechte Laune«, sagt Iver, als er mit einem Kaffee zurückkommt.
»Wer ist das denn?«
»Heidi. Sie ist eben hier vorbeigerauscht.«
»Ah ja.«
Der Adler , denkt Henning. Passender Spitzname. Er startet die Textdatenbank und öffnet ein paar Fenster.
»Vorbereitet auf das Morgenmeeting?«, fragt Iver, als er sich setzt.
»Allzeit bereit, Frau Blom.«
Iver tippt eifrig auf seiner Handytastatur herum, ehe er das Telefon beiseitelegt und Henning ansieht. »Wer ist eigentlich Frau Blom?«
Henning begegnet Ivers fragendem Blick.
»Dauernd redest du von Frau Blom, aber ich habe keine Ahnung, wer sie ist. Ich bezweifle, dass überhaupt jemand weiß, wer sie ist.«
»Wieso? Weil du es nicht weißt?«
»Nein«, antwortet Iver beleidigt. »Es gibt in unserer Alltagssprache einen Haufen Dinge, die einfach so dahergesagt werden, ohne dass die Leute eigentlich wissen, was sie bedeuten oder woher sie stammen. Pustekuchen.
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