Vergiftet
bewusst«, sagt sie. »Aber dann geht ihr eben raus und sucht euch die Storys selbst. Wir können nicht hier rumsitzen und darauf warten, dass uns die Dinge in den Schoß fallen. Wir müssen raus, mit den Leuten reden. Die Leserzahlen sind schon den ganzen Sommer über mehr als schlecht.«
»Die Zahlen sind im Sommer immer schlecht.«
»Ja, schon, aber …«
»Ich habe im Laufe des Tages eine Verabredung mit einem Informanten«, fährt er fort und nimmt einen Schluck Kaffee.
Die unter Journalisten weltweit sicher verbreitetste, aber immer wieder funktionierende Lüge.
»In welcher Angelegenheit?«
»Darüber kann ich noch nichts …«
Heidi unterbricht ihn. »Was hast du gesagt?«
»Wenn ich von meiner Quelle erfahre, was ich zu erfahren hoffe, kann das eine gute Story werden. Aber bis dahin würde ich gern lieber den Mund halten.«
»Ah ja«, sagt Heidi verstimmt und schüttelt beinahe unmerklich den Kopf, doch alle am Tisch nehmen es wahr. Dann malt sie auf ihrem Zettel einen langen, dicken Strich unter Hennings Namen. »Dann hilfst du so lange im Schneideraum aus.«
Henning sieht sie ungläubig an. »Schneideraum?«
»Ja, du weißt doch, was man da macht?«
»Ja, klar, aber …«
»Da ist heute niemand. Die einen sind krank, die anderen in den Ferien. Und Egil hat heute frei. Ich schicke dir nachher die NTB -Liste, Henning, und ihr anderen kriegt von mir einen Ausdruck des Tagesprogramms.«
Henning sieht, dass Iver lächelt.
»Los, los«, sagt Heidi und deutet mit den Händen an, dass sie alle verschwinden sollen. »Ich muss jetzt in die Redaktionssitzung, und der Tag ist schon ziemlich fortgeschritten.«
Stuhlbeine kratzen über den Boden, als die Anwesenden sich von ihren Plätzen erheben. Henning verlässt als Letzter den Raum. Schneiden, denkt er, das ist echt der ultimative Anfängerjob. An anderen Tagen hätte er Zeter und Mordio geschrien oder sich vor der Sitzung Zeit genommen, irgendein potenzielles Thema zu konstruieren, eine Fortsetzungsstory, bloß um Heidi den Eindruck zu vermitteln, es stünde etwas auf seinem Zettel. Schneiden ist eine Arbeit für Hirntote. Aber wenigstens kann er die Zeit zwischen den eintickernden News nutzen, um Tore Pulli und die Leute in seinem Umfeld ein wenig genauer unter die Lupe zu nehmen. Bis jetzt hat er ja gerade mal an der Oberfläche gekratzt.
21
Das Lächeln der freundlichen Sekretärin am anderen Ende der Verbindung ist förmlich zu spüren, als Henning sich bedankt und darauf wartet, durch die Büros von Johnsen, Utne & Olsvik verbunden zu werden. Henning war schon einmal in der Kanzlei, kann Frode Olsvik aber nicht persönlich aufsuchen, schließlich hat Heidi ihn in den Schneideraum verbannt.
Zwei Artikel hat er bisher produzieren müssen. Eine Story über das Unwetter, das die Suche nach dem Wrack des in Pakistan abgestürzten Flugzeugs erschwert. Vermutlich sind dort mindestens hundertachtundfünfzig Menschen ums Leben gekommen. Der zweite Beitrag war ein kurzer Achtzeiler über vier Männer, die am letzten Wochenende gemeinsam eine Frau in einer Kellerwohnung in Nordstrand vergewaltigt haben. Beides reine Schreibtischbeiträge, was ihm jetzt, da er Frode Olsviks satte Stimme hört, vollkommen egal ist. Henning stellt sich vor.
»Guten Tag, Juul.«
»Erinnern Sie sich an mich?«
»Aber ja«, erwidert der Anwalt und räuspert sich. Frode Olsvik ist ein Strafverteidiger, der bis ins Detail in die Serie L. A. Law passen würde, die in den späten Achtzigerjahren ausgestrahlt worden ist. Er trägt maßgeschneiderte Anzüge, Hosen mit Hosenträgern und serviert in seinem Büro eine ansehnliche Auswahl an Single Malts aus Kristallkaraffen. Trotz seiner langen Arbeitstage hat er eine glückliche Ehe und anscheinend wohlgeratene Kinder. Letzteres weiß Henning von anderen Kriminalreportern, die zu Olsviks Facebook-Freunden gehören.
»Mein Beileid«, sagt er. »Ich habe von Ihrem Sohn gehört. Wie geht es Ihnen?«
»Danke, es geht.«
»Es heißt, Sie haben wieder begonnen zu arbeiten?«
»Wo haben Sie das gehört?«
Olsvik lacht. »Es kommt durchaus vor, dass ich bei Ihrem Arbeitgeber vorbeischaue, auch wenn ich für die Zeitung nicht sonderlich viel übrighabe. Aber das nehmen Sie bitte nicht persönlich, ja?«
»Aber nicht doch. Haben Sie zwei Minuten Zeit?«
»Ja, zwei Minuten sollte ich haben. Leider aber nicht mehr. Ich muss zu einem Termin mit einem Klienten.«
»Okay, ich werde versuchen, mich kurzzufassen. Es geht um Tore Pulli.
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