Vergiss mein nicht
Schreibtisch. Sara horchte stumm auf die leisen Schnarchgeräusche der alten Dame. Ein nur halb geleerter Teller mit Grillfleisch stand neben ihr, und daraus schloss Sara, dass sie ihr Mittagsschläfchen machte.
Sara hatte viele Leichenschauen bei Brock’s mitgemacht, und sie kannte sich gut genug in dem Haus aus, um ins Kellergeschoss zu gelangen, wo sich der Balsamierungsraum befand. Sie hielt sich auf der schmalen Treppe am Geländer fest und stieg ganz vorsichtig die bloßen Holzstufen hinab. Sara war auf diesen Stufen einmal ausgerutscht, und noch drei Wochen danach hatte ihr das Steißbein wehgetan.
Am Fuß der Treppe wandte sie sich nach links, ging am Sarglager vorbei und gelangte in den großen offenen Raum, der als Balsamierungsbereich diente. Man hatte eine Pumpe angestellt, und Sara spürte, wie deren Vibrieren die Wände erschütterte. Dan Brock saß neben dem Leichnam von Grace Patterson und las in einer Zeitung, während die Balsamierungsmaschine das Blut aus ihrem Körper herauspumpte und durch eine chemische Lösung ersetzte.
» Dan«, sagte Sara, um sich bemerkbar zu machen.
Vor Schreck ließ Brock die Zeitung fallen. » Großer Gott«, lachte er. » Ich dachte schon, sie hätte gesprochen.«
» Das Gefühl kenne ich«, sagte sie, denn obwohl sie schon fast zwölf Jahre lang für das County arbeitete, sah sie immer wieder Gespenster, wenn sie spätnachts allein im Leichenschauhaus war.
Er stand auf und reichte ihr die Hand. » Welcher Angelegenheit habe ich dieses seltene Vergnügen zu verdanken, Dr. Linton?«
Sara umfasste seine Hand mit beiden Händen. » Ich habe eine recht seltsame Bitte«, begann sie. » Und du darfst mich rausschmeißen, weil ich es wage, damit zu kommen.«
Er neigte den Kopf und sah sie verwundert an. » Ich wüsste nicht, mit welcher Bitte du mich dazu bringen könntest, Sara.«
» Na ja«, sagte sie und hielt immer noch seine Hand umschlossen. » Lass mich dich bitten, und dann kannst du entscheiden.«
In der Klinik ging es geschäftig zu, als Sara die Hintertür öffnete. Sie eilte zur Schwesternstation, und ohne auch nur » Hallo« zu sagen, fragte sie Nelly: » Hat Jeffrey angerufen?«
Nelly lächelte gequält. » Und wie war Ihre Mittagspause, Dr. Linton?«
» Die musste ich aufschieben«, antwortete sie, sagte aber nicht, warum. Nelly hatte des Öfteren deutlich gemacht, nicht sonderlich begeistert darüber zu sein, dass Sara auch im Leichenschauhaus arbeitete.
Sara fragte: » Hat er denn nun angerufen?«
Nelly schüttelte den Kopf. » Ich habe was über Dottie Weaver erfahren.«
Sara zog eine Augenbraue hoch. » Und was genau?«
Nelly senkte die Stimme. » Deanie Phillips wohnt gleich nebenan von ihr«, raunte sie. » Sie hörte gestern einen lauten Krach und ging rüber, um nachzusehen, was los war.«
» Und was war los?«
» Nun«, sagte Nelly und stützte die Ellbogen auf den Tresen. » Deanie sagt, sie hat gehört, wie ein paar Cops davon sprachen, dass Dottie irgendwie was mit dem Verschwinden von Lacey Patterson zu tun hat.«
Sara unterdrückte ein Stöhnen. Obwohl sie fast ihr ganzes Leben in Grant verbracht hatte, war sie immer noch verblüfft, wie schnell sich Gerüchte in der Stadt verbreiteten. » Glauben Sie nur nicht alles, was Sie hören«, ermahnte sie Nelly. Es war nicht auszudenken, was in der Stadt los sein dürfte, wenn man herausfand, dass Dottie Weaver in Wahrheit Wanda Jennings war. Sara selbst fiel es sehr schwer, für sich zu behalten, dass ihre Untersuchung im Bestattungsinstitut Hinweise darauf ergeben hatte, dass Grace Patterson kürzlich ein Kind zur Welt gebracht hatte.
» Ja, Ma’am«, sagte Nelly, ein ironisches Lächeln auf den Lippen. Sie vermochte Sara fast so leicht zu durchschauen wie Cathy Linton.
» Hat während meiner Abwesenheit jemand angerufen?«
» Drei Quengler brauchen Sie«, sagte Nelly und gab ihr die Notizzettel.
Sara überflog sie und fragte: » Wann ist mein nächster Termin?«
» Die Jordans in ungefähr fünf Minuten«, sagte Nelly. » Sie sind für ein Uhr dreißig bestellt, aber Sie wissen ja, dass Gillian sich immer verspätet.«
Sara warf einen Blick auf ihre Uhr. Sie fragte sich, warum Jeffrey noch nicht angerufen hatte. Es konnte doch nicht länger als eine Stunde dauern, Teddy Patterson zu vernehmen, zumal das eigentlich Nicks Fall war. Ganz kurz erwog sie, Jeffrey anzurufen, überlegte es sich aber doch anders. Er wäre höchstwahrscheinlich nicht gerade begeistert, wenn sie hinter
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