Vergiss mein nicht
einen mit ihrem Sohn geteilten Augenblick heraufbeschwor.
» Erzählen Sie mir von Jenny Weaver«, zischte Lena, » was haben Sie ihr angetan?«
» Sie war…«, begann Grace und starrte an die Decke. Tränen rannen ihr übers Gesicht, aber diese Tränen waren Bestandteil ihres Krankheitszustandes, ein Symptom der körperlichen Schmerzen, unter denen sie litt, und kein Anhaltspunkt dafür, dass sie etwa Kummer empfand.
Die Maske war immer noch zur Seite geschoben, und Grace setzte an, sie wieder zurückzuschieben, stammelte aber noch: » Sie war… so… ein… süßer…«
Ihre Stimme verlor sich. Lena wartete darauf, dass sie den Satz beendete. Als nichts kam, fragte sie: » Süßer was?«
Ein beinahe engelsgleiches Lächeln glitt hinter der Sauerstoffmaske über ihr Gesicht. » …süßer… Fick.«
» Du Dreckstück«, flüsterte Lena und ergriff das Kissen, das neben Grace lag. Sie streifte die Maske zur Seite und drückte das Kissen auf das Gesicht der Frau. Grace setzte Lena keinen Widerstand entgegen, und die behielt Teddy im Auge, während sie versuchte, seine Frau zu ersticken. Die Beine der Frau zuckten, und Lena hörte auf– zwang sich dazu aufzuhören. Sie nahm das Kissen hoch. Danach rückte sie mit bebenden Händen die Maske zurecht, um sicherzustellen, dass Grace wieder Sauerstoff bekam. Was Minuten zu dauern schien, mochten vielleicht nur Sekunden gewesen sein, aber dann öffnete Grace wieder die Augen. Sie schien verblüfft zu sein, dann wurde sie zornig. Lena wusste, dass es ein Gnadenakt gewesen wäre, sie umzubringen. Grace Patterson blieben nur noch ein paar Stunden auf dieser Welt. Und die wollte Lena ihr nicht verkürzen.
Grace japste wütend und sah Lena grimmig an. Ihre Lippen bewegten sich, als sie ein Wort flüsterte: » Feige.«
Auch Mark hatte Lena schon so genannt, und vielleicht stimmte es ja, aber bestimmt nicht aus dem Grund, den Grace meinte.
Lena entgegnete: » Nicht so feige, wie ein Kind zu vergewaltigen.«
Grace schüttelte den Kopf, entweder um zu leugnen, dass Mark ein Kind sei, oder um die Beschuldigung der Vergewaltigung zurückzuweisen.
» Er hat versucht sich umzubringen«, sagte Lena. » Wussten Sie das?«
Der Reaktion von Grace konnte sie entnehmen, dass sie es nicht gewusst hatte.
» Hat sich im Wandschrank aufgehängt, gleich nachdem er mir erzählt hat, dass Sie ihn gefickt haben«, erläuterte sie. » Er wollte nicht mit dem weiterleben, was Sie ihm angetan haben.«
Grace richtete den Blick wieder an die Zimmerdecke. Ihre Tränen rannen noch immer, doch jetzt wusste Lena nicht mehr, ob sie von den körperlichen Schmerzen rührten oder Trauer ausdrückten.
» Er liegt im Koma. Wird wahrscheinlich auch nicht mehr aufwachen.«
Grace flüsterte etwas, aber Lena konnte sie nicht verstehen. Sie beugte sich hinunter. Das Ohr dicht am Mund der Frau, die Hand auf die Bettkante gestützt. Ohne Vorwarnung packte Grace Lenas Hand. Die Frau war von der Mühe des Sterbens geschwächt, und Lena konnte ihre Hand wegziehen. Doch Grace schaffte es trotzdem noch, mit dem Daumen über die Narbe auf Lenas Hand zu streichen. Es war eine zärtliche Berührung, die etwas Sexuelles hatte, und Lena entging nicht, welchen Kick Grace darin fand.
» Du perverses Miststück«, sagte Lena. Sie rieb sich die Hand, als könne sie das Gefühl, missbraucht worden zu sein, dadurch wegwischen. » Du wirst in der Hölle schmoren.«
Es schien ihre gesamte Energie zu kosten, aber die Mutter sagte flüssig und deutlich: » Da sehen wir uns wieder.«
Lena wich bis an die Wand zurück bei diesem höchst seltsamen Déjà-vu-Erlebnis. Mark und Jenny hatten an dem Abend, als Jenny starb, fast dasselbe zueinander gesagt.
Lena blieb einen Augenblick still stehen, beobachtete Grace Patterson und schaute prüfend zu Teddy. Er schlief noch immer tief und fest. Sie sah auf ihre Uhr. Noch drei Stunden, bis die Sonne aufging und die Krankenschwester zurückkam, um nach Grace zu sehen. Lena klinkte den Morphiumknopf weit außerhalb von Graces Reichweite fest. Sie setzte sich auf ihren Stuhl und machte es sich, so gut es ging, bequem, um darauf zu warten, dass Grace Patterson starb.
Siebzehn
J effrey schwitzte unter seiner schusssicheren Weste. Die Augusthitze, zusammen mit dem Gewicht der Teflonweste, hätte auch einen Elefanten in die Knie gezwungen. Jeffrey hatte inzwischen so viel Flüssigkeit verloren, dass sein Gaumen sich anfühlte, als sei er mit Sandpapier aufgeraut worden.
» Klasse
Weitere Kostenlose Bücher