Vergiss mein nicht
rechnete fast damit, dass sie auch noch die Schuhe auszog und die Füße auf den Tisch legte.
» Es tut mir leid…«, begann Dottie und hielt inne. » Ich meine, was Ihnen passiert ist.«
Lena nickte kurz und hielt den Blick gesenkt, als müsse sie sich erst einmal sammeln. Als einen der ersten Verhörtricks hatte Jeffrey der jungen Kollegin beigebracht, dass Schweigen der beste Verbündete eines Cops ist. Normale Menschen können die Stille schlecht aushalten und sind stets bemüht, das Schweigen zu brechen. Meistens tun sie es dann, ohne vorher ihr Gehirn einzuschalten.
» Und Ihre Schwester«, fuhr Dottie fort. » Sie war eine so liebenswerte Person. Ich kannte sie vom › Jugend forscht‹-Projekt. Naturwissenschaft war Jennys Lieblingsfach. Sie war…«
» Sibyl war Lehrerin«, sagte Lena nur. » Sie liebte es, Kindern etwas beizubringen.«
Wieder wurde es still im Raum, und Jeffrey merkte, dass er Sara anstarrte. Ein paar Strähnen ihres dunkelroten Haars hatten sich aus dem Pferdeschwanz gelöst und klebten im Nacken. Die Brille saß ihr nicht mehr schief auf der Nase, sondern schief auf dem Kopf. Sie fixierte Lena, wie sie eine Schlange fixiert hätte, während sie überlegte, ob sie vielleicht giftig war.
Lena fragte: » Müssen wir Kontakt zu Ihrem Ehemann aufnehmen, Mrs Weaver?«
» Dottie«, erwiderte die Mutter. » Ich habe es ihm schon gesagt.«
» Wird er zur Beerdigung kommen?«
Dottie antwortete nicht, sondern spielte nervös mit ihrem schmalen silbernen Armband am Handgelenk. Als sie dann das Wort ergriff, wandte sie sich an Sara. » Sie haben sie aufgeschnitten, nicht wahr?«
Sara öffnete den Mund, um zu antworten, aber Lena kam ihr zuvor.
» Ja, Ma’am«, sagte Lena. » Dr. Linton hat die Obduktion durchgeführt. Ich war anwesend. Wir wollten sicherstellen, dass alles für Jenny getan wurde, was in unserer Macht stand.«
Dotties Blick wanderte von Lena zu Sara und wieder zurück. Plötzlich beugte sie sich über den Tisch und krümmte die Schultern vor, als habe sie einen Schlag in den Magen bekommen. » Sie war mein einziges Kind«, schluchzte sie. » Sie war mein Liebling.«
Sara streckte die Hand aus, um den Rücken der trauernden Frau zu berühren, aber Lena gebot ihr mit einem Blick Einhalt. Dann lehnte sie sich selbst vor, nahm Dotties Hand und sagte zu Dottie: » Ich weiß, was es bedeutet, jemanden zu verlieren. Glauben Sie mir.«
Dottie drückte Lenas Hände. » Ihnen glaube ich das.«
Jeffrey merkte, dass er den Atem angehalten und auf diesen Moment gewartet hatte. Lena hatte das Eis gebrochen.
Sie fragte: » Was war denn mit Jennys Vater?«
» Oh.« Dottie kramte ein Papiertaschentuch aus ihrer Handtasche. » Das Übliche. Wir kamen nicht miteinander aus. Er wollte mehr vom Leben. Und da ist er mit seiner Sekretärin durchgebrannt.« Sie wandte sich an Sara. » Sie wissen ja, wie die Männer sind.«
Jeffrey war leicht irritiert, weil sie damit auf seine eheliche Untreue anspielte. So war das eben in einer Kleinstadt.
» Er hat sie aber nie geheiratet«, schloss Dottie. » Die Sekretärin.« Ihre Mundwinkel krümmten sich zur Andeutung eines triumphierenden Lächelns.
» Meine beste Freundin aus der Highschool hat dasselbe durchgemacht«, sagte Lena, um damit die Verbindung zwischen sich und Dottie Weaver zu festigen. » Ihr Vater hat das Gleiche getan. Er ist einfach eines Tages verschwunden und hat nie wieder etwas von sich hören lassen. Sie haben ihn auch nie wieder gesehen.«
» Aber nein, Samuel war anders«, nahm Dottie ihren Mann in Schutz. » Jedenfalls anfangs. Er besuchte Jenny einmal im Monat, bis er nach Spokane versetzt wurde. Das ist in Washington.« Lena nickte, und Dottie fuhr fort. » Ich glaube, zum letzten Mal hat er sie vor über einem Jahr gesehen.«
» Wie hat er reagiert, als Sie ihn gestern Abend benachrichtigt haben?«
» Er hat geweint«, sagte sie, und auch ihr liefen Tränen über die Wangen. Sie wandte sich wieder an Sara, vielleicht, weil sie Jenny gekannt hatte. » Sie war so lieb. Sie hatte ein so gutes Herz.«
Sara nickte, aber Jeffrey entging nicht, dass ihr unwohl dabei war, wie Lena die Vernehmung führte. Er fragte sich, was Sara nach den Befunden von gestern Nacht erwartet hatte.
Dottie schnäuzte sich, und dann sprach sie mit mehr Nachdruck. » Sie ist einfach in schlechte Gesellschaft geraten. Und dann dieser Patterson-Junge.«
» Mark Patterson?«, fragte Lena.
» Ja, Mark.«
» Ist sie mit ihm gegangen?«
Dottie
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