Vergiss mein nicht
Bar. » Nicht so laut.«
» Ich rede so laut, wie ich will«, antwortete Nan und wurde noch lauter. » Du kannst gar nicht beurteilen, ob ich deine Schwester geliebt habe oder nicht. Verstanden?«
» Ich habe doch gar nichts beurteilt«, antwortete Lena und fragte sich, wieso sich die Situation so schnell hochgeschaukelt hatte. Sie konnte sich noch nicht einmal erinnern, wie das eigentlich angefangen hatte, aber Nan war stinksauer.
» Und ob du das hast«, schnauzte sie. » Du denkst wohl, du bist hier der einzige Mensch, der Sibyl geliebt hat? Ich habe mein Leben mit ihr geteilt.« Sie senkte die Stimme. » Ich habe mein Bett mit ihr geteilt.«
Lena zuckte zusammen. » Ist mir durchaus klar.«
» Wirklich?«, sagte Nan. » Ich will dir nämlich was sagen, Lena, ich hab es langsam satt, von dir wie eine Aussätzige behandelt zu werden.«
» He«, unterbrach Lena. » Ich bin nicht diejenige, die im Team von Suddy’s Softball spielt.«
» Ich verstehe nicht, wie sie das aushalten konnte«, sagte Nan leise zu sich selbst.
» Was aushalten?«
» Deine beschissene misogyne Bullenmentalität zum Beispiel.«
» Misogyn?«, wiederholte Lena. » Wie nennst Du mich?«
» Und homophob«, fügte Nan hinzu.
» Homophob?«
» Bist du jetzt zum Papagei geworden?«
Lena spürte, dass ihre Nasenflügel bebten. » Verarsch mich nicht, Nan. Das würde dir schlecht bekommen.«
Nan schien die Warnung nicht zu registrieren. » Warum gehst du nicht wieder in die Bar und lernst ein paar Freunde deiner Schwester kennen, Lee? Warum redest du nicht mal mit den Menschen, die sie am besten kannten und denen sie am Herzen lag?«
» Du hörst dich schon an wie Hank«, entgegnete Lena. » Ach, jetzt verstehe ich«, sagte sie, denn ihr war gerade etwas klar geworden. » Du hast mit Hank über mich gesprochen.«
Nan presste die Lippen zusammen. » Wir machen uns Sorgen um dich.«
» Tatsächlich?« Lena lachte. » Toll, mein Junkie-Onkel und die lesbische Tusse meiner toten Schwester machen sich Sorgen um mich.«
» Ja«, sagte Nan unbeirrt. » Das tun wir.«
» Scheiße, ist das bescheuert«, sagte Lena und lachte. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete den Kofferraum.
» Weißt du, was wirklich bescheuert ist?«, fragte Nan. » Bescheuert ist, dass ich mich darum schere, was du tust. Bescheuert ist, dass ich mir Sorgen mache, weil ich den Eindruck habe, dass du dein Leben wegwirfst.«
» Keiner hat dich gebeten, mein Kindermädchen zu spielen, Nan.«
» Nein«, stimmte Nan zu. » Aber Sibyl hätte es so gewollt.« Sie milderte jetzt ihren Ton. » Wenn Sibyl hier wäre, würde sie dasselbe sagen.«
Lena musste schwer schlucken, denn es war etwas dran an Nans Worten. Sibyl war der einzige Mensch gewesen, der Lena jemals wirklich hatte erreichen können.
Nan fuhr fort: » Sie würde sagen, dass du dich mit dem, was geschehen ist, auseinandersetzen musst. Sie hätte sich große Sorgen um dich gemacht.«
Lena starrte auf den Wagenheber im Kofferraum, denn auf etwas anderes konnte sie sich nicht konzentrieren.
Nan sagte: » Du bestehst nur noch aus Wut.«
Wieder lachte Lena, aber dieses Lachen klang in ihren Ohren hohl. » Ich finde, ich habe einen verdammt guten Grund dazu.«
» Weswegen? Weil deine Schwester ermordet wurde? Weil du vergewaltigt wurdest?«
Lena streckte den Arm aus und stützte sich am Kofferraum ihres Wagens ab. Wenn es nur so einfach wäre, dachte Lena. Sie betrauerte nicht nur den Tod ihrer Zwillingsschwester, sondern sie betrauerte auch ihren eigenen Tod. Lena wusste nicht mehr, wer sie war, ja, sie wusste nicht einmal mehr, warum sie morgens aufstand. Alles, was Lena vor der Vergewaltigung gewesen war, hatte man ihr genommen. Sie kannte sich selbst nicht mehr.
Nan sagte wieder etwas, ja, sie nannte seinen Namen. Lena sah, wie Nans Lippen diesen Namen formten, sah seinen Namen wie einen Giftpfeil auf sich zukommen.
» Lee«, sagte Nan, » lass es nicht zu, dass er dein Leben ruiniert.«
Lena klammerte sich krampfhaft am Wagen fest, überzeugt, dass ihre Knie nachgeben würden, wenn sie losließ.
Nan sprach seinen Namen nochmal aus und fügte hinzu: » Du musst dich damit auseinandersetzen, Lena. Du musst dich jetzt damit auseinandersetzen, oder du bleibst auf der Strecke.«
Lena zischte: » Verpiss dich, Nan.«
Nan trat vor, als wenn sie Lena die Hand auf die Schulter legen wollte.
» Komm mir ja nicht zu nahe«, warnte Lena.
Nan seufzte tief und lange. Sie hatte offenbar
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