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Vergiss mein nicht (German Edition)

Vergiss mein nicht (German Edition)

Titel: Vergiss mein nicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sieveking
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frühzeitig wieder aus der Klinik entlassen. Es war wie verhext: Jahrelang hatten die Ärzte behauptet, Gretel habe gar keine Demenz, und nun war sie plötzlich schon ›zu dement‹, um noch etwas für sie zu tun. Mein Vater war tief enttäuscht, dass man in der Klinik nicht individueller auf Gretel eingegangen war, dass ihre verbalen Fähigkeiten und ihr Humor gar nicht weiter zur Kenntnis genommen worden waren. Doch trotz aller Frustration wurde ein Ratschlag, den die leitende Ärztin dieser Klinik damals meinem Vater gegeben hatte, in der folgenden Zeit der wichtigste Leitsatz für seine Zukunft mit Gretel:
    »Hören Sie auf, Ihre Frau aus der Vergangenheit zu erklären.«

Kapitel 11
    Irrtum zweiter Klasse
    »Oh bitte, bitte«, fleht meine Mutter leise und weckt mich aus dem Halbschlaf. Es ist kurz nach drei Uhr morgens. Ich bin während meiner Nachtschicht im Krankenhaus eingenickt. »Ich bin bei dir, Gretel, ich bin bei dir«, beruhige ich sie und streichle ihre Hand.
    »Das ist schön. Das ist gut«, murmelt sie mit geschlossenen Augen und lächelt. Mir fällt ein, dass mir gestern eine von Gretels Schwestern aufgetragen hat, ihr einen Kuss zu geben und ihre Hände zu streicheln, die so schön seien. Ich beuge mich vor, gebe ihr einen Kuss auf die Wange und flüstere: »Gretel, ich liebe dich.« Prompt schlägt sie die Augen auf und fragt:
    »Warum denn?«
    »Weil du meine Mutter bist.«
    »Was? Ich?« Expressiv zieht sie die Augenbrauen hoch und die Mundwinkel herab. Ich wundere mich selber, dass ich ihr gerade diese Liebeserklärung gemacht habe. Es ist das erste Mal, dass ich ihr das so direkt mitgeteilt habe.
    »Das glaubt die doch sowieso nicht!«, ruft Gretels Zimmernachbarin gallig aus der anderen Ecke herüber und bringt mich zum Schmunzeln. Da beginnt sich die knochige Gestalt im anderen Bett auf einmal langsam von ihrem Lager aufzurichten. Habe ich die alte Frau etwa verärgert? Im Halbdunkel glaube ich einen erbosten Gesichtsausdruck zu erkennen. Mit viel Mühe arbeitet sich die Gestalt jetzt am Geländer ihresBettes empor, ihre Wangen sind fleckig blau, die Hände dunkelgrau und zerfurcht. Es sieht unheimlich aus, wie in einem Zombiefilm. »Ich will ein Glas Wasser!«, stöhnt die Alte.
    Ich gehe zu ihr hinüber und biete ihr den bunten Plastikbecher an, der auf dem Beistelltisch steht. »Das will ich nicht!«, stößt sie hervor und klammert sich krampfhaft am Geländer fest: »Ich will raus in mein Bett!« Ratlos stehe ich vor ihrem Schlafplatz, der für die Frau wie zu einem Gefängnis geworden ist. Seufzend lässt sie sich schließlich zurücksinken und bleibt erschöpft liegen.
    Ich warte einen Moment ab und horche auf ihren Atem, der aber deutlich zu hören ist. Es riecht wieder einmal gar nicht gut hier. Vergeblich versuche ich das Fenster zu öffnen, gehe fluchend zur Tür und drücke einen Knopf, um eine Nachtschwester oder einen Pfleger zu verständigen.
    Dann fällt mein Blick auf den leeren Platz des Dreibettzimmers zwischen der Tür und dem Platz meiner Mutter. Gestern Morgen hatte da noch eine andere Frau gelegen. Sie war in der Nacht zuvor eingeliefert worden. Am nächsten Morgen hatte Gabija bemerkt, dass sie nicht mehr atmete. Die Patientin war im Laufe der Nacht unbemerkt vom Personal gestorben. Sie hatte sehr alt ausgesehen, wie jemand, der sein Leben gelebt hatte. Aber es war traurig, dass sich kein Angehöriger um sie gekümmert hatte. Niemand war aufgetaucht. Heute Morgen hielt mich eine Ärztin offenbar für einen Enkel der Verstorbenen und erklärte aufgeregt: »Das hier ist eben keine Überwachungsstation wie im Intensivbereich. Nachts können wir nicht immer ständig alles kontrollieren!«
    Nach dieser Erfahrung hatten wir uns entschlossen, einen eigenen ›Bereitschaftsdienst‹ an Gretels Seite einzurichten. Mein Vater, meine Schwester, Gabija und ich wechselten uns von nun an Tag und Nacht im Schichtdienst ab, um Gretel im Auge zu behalten.
    Verärgert, dass ich das Zimmer nicht eigenhändig lüften kann, trete ich an Gretels Bett, wo ihr Tropf an einem Ständer hängt. Aus dem Beutel führt ein dünner Schlauch in eine Vene meiner Mutter. Ich wundere mich, dass der Infusions-Beutel schon so viele Stunden lang hält und lese beiläufig die Liste der Inhaltsstoffe. Unter anderem enthält die Nährlösung Sojaöl, Glucose und Vitamine. Dann wandert mein Blick auf den Namen des Herstellers: Fresenius Kabi , eine Firma, die ihren Hauptsitz hier in Bad Homburg hat. Viele

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