Vergiss mein nicht (German Edition)
der ausländischen Mitarbeiter sind früher von meiner Mutter in Deutsch unterrichtet worden – jetzt hängt sie sozusagen an ihrem Tropf.
Apropos Tropf! Wieso tropft hier eigentlich nichts? Die Emulsion, die eigentlich stetig aus dem Beutel laufen sollte, um durch den Schlauch in die Blutbahn zu gelangen, fließt nicht mehr. Ich warte noch einen Moment, ob sich etwas tut, schüttele den Kunststoffsack, aber es löst sich nur ein kläglicher Tropfen, und der nächste bleibt schon wieder im Beutel hängen. Seltsam. Ich verfolge den mit der milchigen Lösung gefüllten Schlauch. Er verschwindet unter Gretels Bettdecke, die ich sachte zurückschlage, um den Venenkatheter an ihrer Hand zu inspizieren. Ihr Unterarm ist ziemlich geschwollen und teils etwas blau, wahrscheinlich noch von ihrem Sturz vor einer Woche in der Küche. Kurz vor dem Anschlussstück des Katheters am Einstich in ihrer Hand ist das Schläuchlein so stark abgeknickt, dass nichts nachfließen kann. Ich biege den Schlauch gerade, und sofort beginnt es oben im Beutel wieder zu tropfen. Mit Schrecken wird mir bewusst, dass diese Infusion Gretels Nabelschnur ist, ihre einzige Chance, wieder zu Kräften zu kommen.
Schon einmal war ich mit meiner Mutter in einer lebensbedrohlichen ›Nabelschnur-Situation‹. Damals war ich derjenige, der den Umständen ausgeliefert war und gleichsam am›Tropf‹ meiner Mutter hing. Sie hatte sich bei mir für eine ambulante Geburt entschieden, aber im alternativen Geburtshaus lief es nicht so ›sanft‹ wie erhofft. Es gab ernste Komplikationen. Schließlich wurde klar, dass sich die Nabelschnur um meinen Hals geschlungen hatte und mich zu erdrosseln drohte. Umso glücklicher war Gretel, als sie mich schließlich nach der langen Entbindung in den Armen hielt.
Jetzt stehe ich an ihrem Bett, jetzt ist es ihr Leben, das am seidenen Faden hängt. Endlich hustet sie kräftig! Ist der Reflex eine Reaktion auf den wieder in Gang gesetzten Zufluss der Nährlösung? Vielleicht ist meine Freude vergleichbar mit dem Glücksgefühl, das Mütter empfinden, wenn ihr Neugeborenes zum ersten Mal schreit oder sein erstes Bäuerchen macht. Bei Gretel hat man allerdings zugleich Angst, dass sie sich an ihrem abgehusteten Schleim verschlucken könnte. Neben ihrem Bett steht das Absauggerät mit der ›Tagesausbeute‹. Es ist lange nicht mehr so viel, wie nach ihrer Einlieferung, aber immer noch die Menge eines kleinen Joghurtbechers.
Da schlägt sie die Augen auf. Das Husten hat ihr Bewusstsein hoch in die Welt des Wachseins katapultiert und sie die Augenlider aufklappen lassen. Die beiden Pupillen kommen etwas verspätet in Position und wandern unruhig hin und her. »Oh je, oh je. Ich weiß überhaupt nicht, wo ich bin.« Sie streckt dabei ihre Hand mit dem Katheter suchend in die Luft. Ich nehme ihre Finger behutsam und drücke sie sanft zwischen meinen Händen. Bis mich meine Tante darauf aufmerksam gemacht hat, habe ich nie daran gedacht, dass meine Mutter schöne Hände haben könnte, aber es stimmt! Sie haben sehr schöne Proportionen und fühlen sich gut an.
»Keine Angst, Gretel. Das ist wie zu Hause hier.«
Sie sieht mich an, und ihre Aufregung legt sich:
»Das ist gut, dass du da bist.«
Wieder hustet sie, diesmal klingt es elend und schmerzhaft. »Oh, du Ärmste hast Husten.« Ich streichle ihr den Kopf wie einem kleinen Kind.
»Ja, das hörst du doch!«, weist sie meinen elterlichen Tonfall zurück. Dann fallen ihr die Augen wieder zu und sie ist weg. Ihr Gesicht hat sich aber deutlich entspannt. Ihre Haut ist schön glatt, und abgesehen von den fiebrig geröteten Wangen hat sie eine gesunde Farbe.
Endlich taucht der Pfleger auf. Er gibt der durstigen Bettnachbarin etwas zu trinken und entschuldigt den scharfen Geruch, die Patientin sei abgeführt worden. Er will versuchen, den Schlüssel für die Fenster aufzutreiben. Dann kommt er zu Gretel, um ihr Fieber zu messen, und schiebt ihr dafür ein Thermometer ins Ohr. Sie wacht davon auf und versucht sich zu wehren: »Lass das!«, zischt sie, aber der junge Mann lässt sich nicht beirren: »Ich weiß, Schätzchen, das ist sehr unangenehm, aber das ist gut für dich.« Sie lässt ihn gewähren – offenbar kann er gut mit ihr umgehen. »37,2 Grad im Ohr. Da macht man noch nichts«, urteilt er nach der Messung. »Ihr Atem hat sich zum Glück auch beruhigt.« Während er meine Mutter auf die andere Seite umlagert, mache ich ihn auf den geknickten Infusionsschlauch
Weitere Kostenlose Bücher