Vergiss mein nicht (German Edition)
Mutter, ist so schön!
Lass mich nicht, fleh ich, eh die Stunde schlägt,
Zu jenen schwarzen Schatten niedersteigen!
Das Stück und besonders die berühmte ›Todesfurcht-Szene‹ gefielen meiner Mutter und mir sehr gut. Wir konnten uns mit dem verträumten Prinzen bestens identifizieren, der angesichts seiner nahen Hinrichtung sein ganzes stolzes Heldentum vergisst und einfach nur noch leben will.
Seit ich mein Grab sah, will ich nichts, als leben,
Und frage nicht mehr, ob es rühmlich sei!
Am nächsten Morgen bin ich wieder in der Klinik und beobachte die blutjunge, frisch ausgebildete Logopädin, wie sie meiner Mutter vorsichtig das Zahnfleisch massiert und mit einem Löffel sanft auf ihre Zunge drückt, um die Speichelbildung zu stimulieren. Den ersten Löffel Apfelmus nimmt Gretel bereitwillig auf und schluckt ihn herunter. »Wenn man merkt, dass es ansatzweise funktioniert«, erklärt die Logopädin leicht sächselnd, »sollte man eine gröbere Substanz nehmen, weil das leichter zum Kauen und Schlucken ist. Wasser oder Suppe kann einem auch schnell in den falschen Hals kommen.«
Die nächste Stufe ist Pfannkuchen, der mit dem Apfelmus zusammen wirklich lecker schmeckt. Ich habe mich als Vorkoster höchstselbst davon überzeugt. »Am besten sorgt man dafür, dass sie immer alles zweimal schluckt«, befindet die Therapeutin, während sie Gretels Kehlkopf aufmerksam beobachtet. Seit ihrer Einlieferung ins Krankenhaus vor einerWoche ist es das erste Mal, dass Gretel wieder eine ordentliche Portion durch den Mund zu sich nimmt. Die Sonne scheint freundlich durch die weit geöffneten Fenster, und Gretel zeigt richtig Appetit. Sie murmelt etwas wie: »Ich möchte, möchte, möchte«, dann schließt sie die Augen und dämmert weg. Eine Gefahr besteht darin, dass sie während des Essens einschläft und beim Atmen Nahrung in ihre Luftröhre bekommt. Doch die Logopädin ist insgesamt zufrieden mit Gretels Schluck-Leistung und drückt mir den Löffel in die Hand: Ich darf weiterfüttern. Wie ist das Leben doch schön – besonders wenn man helfen kann, es zu erhalten!
Aber ein Zuckerschlecken ist es auch nicht eben, ohne professionelle Kiefermassage öffnet Gretel nur widerwillig ihren Mund. Man braucht viel Geduld und Spucke für eine ganze Mahlzeit. Besonders, wenn man ständig Angst hat, sie könne sich verschlucken. Ein harmloser Löffel Pfannkuchen wird plötzlich zur tödlichen Gefahr – eine Zitterpartie. Als ich etwas Apfelmus auf ihr Kinn kleckere, öffnet Gretel die Augen und stellt fest: »Das ist schlimm.« Erfreut sehe ich zu, wie sie sich selbst mit dem Finger das feuchte Kinn abwischt und dabei »Ich kann, kann aber« murmelt.
Als wenig später Gabija kommt, um mich abzulösen, ist auch ihre Freude groß: Endlich kann sie wieder etwas Handfestes für Gretel tun! Auch wenn es anderthalb Stunden dauert, ihr einen Pfannkuchen zu verfüttern: Die Hauptsache ist, dass es wieder bergauf geht! Gabija steckt mich mit ihrem Optimismus an: »Jetzt bald große Gretel-Krise vorbei!«
Ich schreibe eine SMS an Malte und meine Schwestern:
›Frohe Botschaft: Gretel isst Pfannkuchen mit Apfelmus J ‹
›Praise the lord‹, schreibt mein Vater zurück.
›Super!‹ antwortet meine ältere Schwester, und die Jüngere ruft mich unter Tränen an: »Glaubst du, dass wir sie jetzt nach Hause holen können?«Als ich nach dem ›Festmahl‹ auf dem Rückweg vom Krankenhaus an meiner früheren Grundschule vorbeikomme, läutet gerade die Glocke zum Schulschluss. Ich fühle mich ähnlich erleichtert wie die Kinder, die da erwartungsvoll dem Rest des schulfreien Tages entgegenstürmen. Zu Hause lege ich mich für einen Mittagsschlaf hin – Hausaufgaben habe ich schon gemacht!
Doch als ich zwei Stunden später verschlafen in die Küche wanke, um Kaffee zu trinken, sind schon wieder schlechte Nachrichten eingetroffen: »Gretel hat sich übergeben und Schleim hochgewürgt«, berichtet mein Vater. »Sie hat kräftig gehustet und wurde wieder abgesaugt. Jetzt schläft sie.« Als meine Schwester mit Mann und Kindern zu Besuch gekommen sei, habe Gretel schon wieder am Tropf gehangen. Als meine Schwester nachfragte, was passiert sei, wurde sie angeschnauzt: »Ihre Pflegerin hat sie gefüttert, und da hat sie sich wieder verschluckt!« Auf keinen Fall dürften wir ihr wieder etwas zu trinken oder zu essen geben. In dem Moment kehrt Gabija aus dem Krankenhaus zurück und beteuert uns ihre Unschuld: »Gretel geschluckt, ich genau
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