Vergiss mein nicht (German Edition)
gegenüber, und ich musste ihr erneut das fremdeGebiss einsetzen. Ohne Gedächtnis musste man wirklich das Gefühl haben, von Geistesgestörten umgeben zu sein!
Ich brachte es dann noch zwei Tage lang zuwege, ihr die Prothese einzusetzen – dann gab ich auf. Es war sowieso völlig unddenkbar, dass mein Vater diese Prozedur durchführen würde, wenn ich nicht mehr da war. Er fragte Gretel ständig, ob sie einverstanden sei, wenn er etwas von ihr wollte. Malte war nicht der Typ, um seiner Frau mit Tricks und Finten eine Zahnprothese einzusetzen. Und durch Gretels Demenz gab es ja auch keine Hoffnung, dass sie sich irgendwann an diese Prozedur gewöhnen könnte: Es wäre immer wieder ein neuer Schrecken für sie. Nach jeder Mahlzeit eine Reinigung der Prothese vorzunehmen, wie es der Zahnarzt empfohlen hatte, wäre schlichtweg Folter. Gretels Zahnpflege war sowieso ein großes Problem, und man musste sich gut überlegen, worauf man seine Energie verwenden wollte, wenn man sich um sie kümmerte. War ihr mit dieser Zahnprothese überhaupt geholfen, oder ging es dabei nicht eigentlich mehr um uns, die sie ansahen? Gretel war ein äußerst uneitler Mensch gewesen, und sie machte nicht den Eindruck, dass sie die Zahnlücke störte. Also wanderten die dritten Zähne nach einer Woche in den Schrank, und anstatt dass sich Gretel an die Prothese gewöhnte, gewöhnten wir uns an ihre Zahnlücke.
So hatten wir damals mit viel Aufwand an Gretel herumgedoktert, ohne ihr damit wirklich zu dienen. Ähnlich ist es jetzt mit der Behandlung im Krankenhaus. Natürlich ist so ein Dekubitus schrecklich, und wir wünschen, dass Gretels Rücken heilt, aber in Anbetracht ihres Gesamtzustandes ist das Risiko, das eine Reihe von Vollnarkosen mit sich bringt, einfach nicht angemessen. Es gibt außerdem für Gretel noch deutlich größere Probleme als ihren wunden Rücken.
»Wenn sie in den nächsten Tagen nicht wieder anfängt zu essen«, erklärt uns die Stationsärztin nach der abgeblasenen Operation, »müssen wir Ende der Woche entscheiden, ob wir ihr eine Magensonde legen oder nicht.«
Nach dem Gespräch frage ich einen alten Schulkameraden um Rat, der Mediziner geworden ist und Gretel gut kannte. »Wenn sie eine Lungenentzündung hat«, fasst er zusammen, »eine Herzinsuffizienz festgestellt wurde, außerdem ein schwerer Dekubitus und sowieso eine fortgeschrittene Demenz besteht, würde ich ehrlich gesagt zusehen, dass ihr sie nach Hause bekommt. Und dann würde ich alle zusammentrommeln, damit ihr von ihr Abschied nehmen könnt.« Einen ganz anderen Ton hatte einer der Ärzte angeschlagen, der Gretel in der Intensivstation behandelt hatte: »Ich empfehle eine Behandlung ihrer Lungenentzündung mit Antibiotika, außerdem eine Dekubitusbehandlung, Krankengymnastik und Atemübungen, so dass ihr sie in einem wesentlich besseren Zustand als jetzt wieder nach Hause nehmen könnt.« In seinen Augen sei Gretel noch viel zu lebendig, um sie aufzugeben, und es sei ja offenbar nicht lange her, dass sie noch gelaufen sei und einiges an Lebensqualität hatte. »Sie jetzt nach Hause nehmen, hieße, sie in den sicheren Tod zu führen.«
Welchem Rat soll man da folgen? Natürlich hoffen wir auf Besserung!
Gabija berichtet uns, dass sie während ihrer Nachtschicht erlebt hat, wie Gretel spontan einen der Pfleger umarmte. Der Mann war dabei gewesen, Gretel umzulagern, und plötzlich hatte sie die Arme ausgebreitet und ihn aufgefordert:
»Komm’ in meine Arme!«
Malte freut sich über Gretels Gefühlsausbruch und fühlt sich an seinen Aufenthalt mit Gretel in einer Alzheimer-Spezialklinik vor zwei Jahren erinnert. Auch dort hatte sie ein Faible für junge Männer entwickelt und sich speziell für einenZivildienstleistenden interessiert. Einmal in der Kantine, als Malte gerade etwas zu essen holte, brachte sie eine ganze Tischrunde zum Lachen, indem sie verkündete: »Am wichtigsten sind immer die anderen Männer!« Meinen Vater kränkte das überhaupt nicht. Ihm gefiel es vielmehr, dass Gretel so lebhaft Kontakt aufnahm. Insgesamt war der Besuch in der Spezialklinik damals aber sehr frustrierend gewesen. Eigentlich war die stationäre Behandlung darauf ausgerichtet gewesen, für die Demenzkranken eine Beschäftigung zu finden, die man zu Hause in den Alltag einbinden konnte. Doch man befand, dass Gretels Demenz schon zu weit fortgeschritten war, als dass man noch eine förderliche Tätigkeit für sie hätte ausfindig machen können, und sie wurde
Weitere Kostenlose Bücher