Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vergiss mein nicht (German Edition)

Vergiss mein nicht (German Edition)

Titel: Vergiss mein nicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sieveking
Vom Netzwerk:
oft dieser Verband denn eigentlich unter Vollnarkose gewechselt werden müsse.
    Der Anästhesist, der am nächsten Tag erscheint, kommt immerhin bis an Gretels Bett, um sie sich anzuschauen. Wie um die dadurch verlorene Zeit wieder aufzuholen, redet er in einem unwahrscheinlichen Tempo und wirft dabei mit Fremdwörtern nur so um sich. Wenn man dieses oder jenes ›Analgetikum‹ verabreiche, müsse man eventuell ›antagonisieren‹. Das mit der Vollnarkose sei überhaupt kein Problem bei solch einer ›neuronalen Athropie‹, aber er mache sich etwas Sorgen, weil Gretel ›dehydriert‹ sei. Das sehe man an ihrer Haut und an der Farbe ihres Urins. Man solle ihr auch aus Gründen, denen ich nicht folgen kann, einen ›zentralen Venenkatheter‹ legen. Als er uns fragt, was Gretel für ein Schmerzmittel bekomme, erzählen wir ihm von dem Fentanyl -Pflaster und wie sich Gretel einen Tag, nachdem wir es zum ersten Mal aufgebracht hatten, beim Essen verschluckt hatte. »Das ist auch kein Wunder«, findet der Betäubungsfachmann: »Die Vigilität sinkt natürlich bei Einnahme von Fentanyl , und auch die Schutzreflexe beim Schlucken können abnehmen. Aspiration ist da eine ganz typische Nebenwirkung. Ich kenne das aus meiner Zeit als Notarzt.« Er findet, Gretel wirke stark ›sediert‹ und empfiehlt, das Schmerz-Pflaster abzunehmen, um sie ›aufwachen‹ zu lassen. Dann werde man sehen, ob sie noch kauen und schlucken könne. Wir wundern uns, denn bisher haben alle Ärzte einen Zusammenhang zwischen dem Pflasterund der Aspiration ausgeschlossen. Für den Anästhesisten aber scheint die Sache glasklar. »Ich kümmere mich darum, dass das Pflaster abgenommen wird«, sagt er zum Abschied. Doch es passiert erst einmal gar nichts, denn es ist Sonntag. Die Oberschwester erklärt uns, heute sei keiner befugt, das Pflaster zu entfernen. Als mein Vater darauf hinweist, dass wir gerade mit einem Arzt darüber gesprochen hätten, wird die Schwester ungemütlich: »Keine Experimente!« Ein Arzt, der die Maßnahme autorisieren könnte, ist heute nicht mehr aufzutreiben.
    Am nächsten Morgen wimmelt es wieder von Ärzten im Krankenhaus, aber wir sind heilfroh, dass keiner Gretel unters Messer nehmen will. Sie wird unverrichteter Dinge vom Operationssaal wieder zurück auf die Station geschoben. Die Röntgenaufnahme hat zwar keine deutliche Entzündung mehr in der Lunge gezeigt, aber der Anästhesist fand Gretels Atem zu schwach für die Narkose. Der Chirurg befand außerdem, dass der Dekubitus momentan nicht Gretels größtes Problem sei. Wir sind heilfroh, dass Gretel noch einmal um die Operation herumgekommen ist. Noch letzte Nacht hatten wir bereut, dass wir uns so leichtfertig diesen ›Vakuumwundverschluss‹ hatten aufschwatzen lassen. Ein befreundeter Arzt hatte mir erklärt, dass mit mindestens vier oder fünf weiteren Vollnarkosen zu rechnen sei, je nachdem, wie sich Gretels Wunde entwickelt und wie oft der Verband gewechselt werden müsse. Es gebe auch öfter Pannen, da die Oberfläche des Wundverschlusses empfindlich sei. In diesem Fall müsse die Wunde dann wieder gereinigt und verschlossen werden – natürlich unter Vollnarkose. Es ist eine Ironie des Schicksals: Gretels schwache Konstitution hat sie noch einmal vor dieser bestimmt nicht ungefährlichen Narkose-Flut bewahrt.Es ist nicht das erste Mal, dass wir für Gretels Gesundheit ein Ziel verfolgen, das sich als Irrweg herausstellt und gar nicht zu ihrem Wohlergehen beiträgt. Als wir vor anderthalb Jahren die festen Zusagen einiger Fernsehredaktionen und Filmförderungen hatten und mit dem Hauptteil der Dreharbeiten bei meinen Eltern begannen, stellte sich heraus, dass Gretel vier ihrer Vorderzähne verloren hatte und in ihrem Lächeln eine riesige dunkle Lücke klaffte. Malte erklärte mir damals, dass er ein paar Tage zuvor bei dem Versuch, ihr die Zähne zu putzen, bemerkt hatte, dass einige locker waren. Und am nächsten Morgen waren sie dann auf einmal weg gewesen. Er hoffte, dass Gretel sie nicht verschluckt hatte und suchte alles ab, fand die Zähne jedoch nicht mehr. Ihr schien die Zahnlücke gar nichts auszumachen, außer dass sie jetzt beim Kauen etwas Probleme hatte. Als Filmemacher hatte ich aber nun das Problem, dass Gretel für die Kamera weniger vorteilhaft aussah. Also machten wir einen Termin, auch wenn Zahnarztbesuche für Gretel schon immer ein Graus gewesen waren. Die Angelegenheit war dann aber noch erheblich schwieriger, als ich mir hatte

Weitere Kostenlose Bücher