Vergiss mein nicht (German Edition)
träumen lassen. Allein schon, sie dazu zu bringen, sich in den Behandlungsstuhl zu setzen und den Mund einen Moment lang offenzuhalten, war ein äußerst schwieriges Unterfangen. Der Zahnarzt befand, dass er eigentlich eine Wurzeloperation vornehmen und ›Brücken‹ bauen müsste, wollte dann aber in Anbetracht von Gretels Zustand lieber eine simple Prothese anfertigen. Das sei für sie bestimmt kein Problem. ›Denkste, Puppe‹, hätte Gretel dazu gesagt.
Beim zweiten Termin redeten wir eine Stunde lang vergeblich auf sie ein, und da sie zu mir wesentlich mehr Vertrauen hatte als zum Zahnarzt oder seinen Helferinnen, übernahm ich quasi die Rolle des Doktors. Ich redete so lange auf meine Mutter ein, bis sie müde wurde, und schaffte es schließlichohne pharmakologische Hilfe, dass sie wegdämmerte. Beim Schlafen ließ sie ihren Mund weit offen stehen, sodass wir ihr die mit einem festen Gel gefüllte Metallform kurz auf die Zähne pressen konnten, um einen Abdruck zu erstellen. Ich war erleichtert, als wir es endlich hinter uns hatten – und umso schockierter, als mir einfiel, dass wir vorerst nichts weiter geschafft hatten, als die Vorlage einer Prothese zu erstellen, die ja auch noch eingesetzt werden musste.
Dies sollte beim dritten Termin geschehen. Zugleich sollte auch die alltägliche Handhabung besprochen werden. Wieder war es ein endloses Theater, bis Gretel den Mund weit genug öffnete, dass wir versuchen konnten, ihr die Prothese einzusetzen. Es war aber auch nicht ganz ungefährlich, mit den Fingern in ihrem Mund zu operieren, da sie oft reflexartig zubiss, wenn sie etwas zwischen ihren Zähnen spürte. Ich wendete also wieder mein rhetorisches Betäubungsmittel an, versetzte Gretel in Halbschlaf und konnte ihr die dritten Zähne in den Mund schieben, ohne dass sie etwas merkte. Mit einem kurzen, festen Andruck setzte ich ihr das Stück ins Gebiss ein: Klack . Gretel schlug erschrocken die Augen auf und versuchte verzweifelt, den Fremdkörper aus ihrem Mund zu entfernen. »Um Gottes Willen! Was ist das?! Das muss wieder raus, das muss wieder raus! Bitte!« Ich umarmte sie überschwänglich und versprach, dass wir gleich zu Hause leckeren Kuchen essen würden. Zum Glück hatte sie meinen schrecklichen Übergriff wenig später schon wieder vergessen und sich an die Prothese gewöhnt. Mein Kameramann und ich waren nun froh, dass sie wieder ein schönes weißes Lächeln hatte.
Aber als mich der Zahnarzt aufklärte, man müsse die neuen Zähne nach jeder Mahlzeit herausnehmen und reinigen, fragte ich ungläubig: »Sie meinen, wir müssen dreimal am Tag diesen Zirkus wiederholen?«
»Nun ja, mindestens nach dem Abendessen, vor dem Schlafengehen. Nachts besteht sonst die Gefahr, dass sie sich die Prothese selber herausnimmt und sich daran verschluckt.«
Mir schwante nichts Gutes, als ich am gleichen Abend mit Gretel im Badezimmer stand und sie bat, kurz den Mund zu öffnen. »Wie bitte, was willst du?«, fragte sie mich.
»Ich will dir nur deine Zähne herausnehmen – ich meine deine Prothese, denn, weißt du, das sind keine echten Zähne. Die hat der Zahnarzt gemacht. Wir wollen sie jetzt putzen, und dafür müssen wir sie herausnehmen.« Gretel wusste natürlich nicht, wovon ich sprach und sah mich an wie einen Wahnsinnigen. Es war ja auch seltsam: Da stand ein Typ vor ihr, der behauptete, ihr Sohn zu sein und ihr die Zähne aus dem Mund nehmen wollte. »Gretel, du hast da was«, versuchte ich es mit einer Finte, »halte doch bitte mal kurz den Mund auf.« Sie folgte meiner Bitte, und ich griff ihr mit einer geschickten Bewegung in den Mund, um mit einem kurzen kräftigen Ruck ihre Zahnprothese vom Kiefer zu lösen: Klack – und schon war das gute Stück heraus und zu Gretels Bestürzung in meiner Hand.
»Oh Gott! Du bist verrückt, du bist verrückt! Was hast du getan?« Der Schrecken war ihr ins Gesicht geschrieben. Für sie war es ja unerheblich, ob es sich um erste, zweite oder dritte Zähne handelte: Ich hatte ihr soeben etwas aus dem Mund herausgerissen, das dort fest verankert gewesen war. Wieder versuchte ich eine Umarmungsstrategie und gab ich ihr einen langen Kuss auf die Wange. »Jetzt kannst du dich endlich hinlegen, Gretel! Ist das nicht schön?« Der Segen des Vergessens half uns auch über diese Situation hinweg, und bald darauf schlief sie friedlich ein. Aber dafür saß der Schock bei mir tief in den Knochen.
Am nächsten Morgen stand sie mir wieder ahnungslos im Badezimmer
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