Vergiss mein nicht (German Edition)
aufmerksam, den ich entdeckt hatte. Er sagt, so etwas könne passieren, wenn sich der Patient bewege und seinen Katheter manipuliere, aber es sei nicht weiter schlimm, einmal ein Stündchen nicht ernährt zu werden. Ihm macht eher der arg geschwollene Arm meiner Mutter Sorgen. Er glaubt, die Ursache sei die Infusion. »Das Zeug ist sauaggressiv!« Man solle gut aufpassen, dass der Arm nicht weiter anschwelle. Wenn er noch dicker werde, müsse man den Katheter in den anderen Arm legen. »Letzte Woche hat sie mir besser gefallen«, sagt er zum Abschied und reicht sich beim Rausgehen die Klinke mit meinem Vater, der kommt, um mich abzulösen.
Malte hat einen guten Moment für seinen Auftritt erwischt, denn Gretel ist auf einmal hellwach und bereitet ihm einen schönen Empfang, indem sie auf ihn deutet und freudig erklärt: »Mein Liebster!« Malte ist gerührt und gibt ihr einen Begrüßungskuss. »Das hat sie noch nie zu mir gesagt!«
Ich lasse die beiden Turteltäubchen alleine und mache mich auf den Heimweg.
Es ist schön, meinen Vater bei guter Laune zu sehen. In letzter Zeit war er sehr niedergeschlagen. Bis vor ein paar Wochen konnte ich mich nicht daran erinnern, meinen Vater jemals laut weinend erlebt zu haben. Dieser Tage passiert das häufiger. Gestern lief er plötzlich heulend aus der Küche, während ich meiner Schwester am Telefon von der Situation im Krankenhaus erzählte. Ein anderes Mal suchte ich ihn morgens und fand ihn schließlich wimmernd unter seiner Bettdecke. Ich wusste nicht, was ich machen sollte und setzte mich einfach neben ihn. Irgendwann kroch er unter der Decke hervor und klagte: »Mein Herz tut so weh!« Ich saß wie erstarrt da und sagte nichts. Als er dann ein paar Mal tief durchgeatmet und sich wieder gefasst hatte, erklärte er: »Ich hab’ vorhin beim Aufstehen daran gedacht, dass Gretel immer so ein Morgenmensch war. Dass sie immer gerne früh aufstand, die Fenster öffnete und die Arme ausstreckte, um in den Tag zu gehen.« Er blickte aus dem Fenster und setzte wehmütig nach: »Aber das ist eigentlich schon lange nicht mehr so.« Beim Gedanken daran, wie sie früher in mein Zimmer kam und die Fenster öffnete, um mich zu wecken, schießen auch mir die Tränen in die Augen, und einen Moment lang schluchze ich zusammen mit meinem Vater.
Neben dem mir vormals unbekannten ›weinenden Vater‹ erlebte ich jüngst auch den für mich neuen ›Vater der grimmigen Selbstbekenntnisse‹. Am Telefon legte er neulich bei seinem jüngsten Bruder eine Art Beichte ab:
»Ich habe einfach die Kurve nicht richtig gekriegt bei Gretels Pflege: Von der Achtung ihres Eigenwillens hin zur vollständigen Verantwortung für sie. Ihr Wohlergehen hätte Entscheidungen über ihren Kopf hinweg verlangt. Sie hat sich ihr Leben lang zu Gymnastik gezwungen, hat sehr diszipliniert jeden Morgen geturnt und da immer wieder ihren inneren Schweinehund überwinden müssen. Als sie sich nicht mehr von alleine aufraffte, wäre es dann meine Aufgabe gewesen, sie dazu zu zwingen. Das war aber nicht einfach. In ihrem Pflegeprotokoll im Krankenhaus steht jetzt noch: ›Patient ist eigenwillig.‹«
Ich saß während des Telefonats nebenan in der Küche und konnte das Gespräch mithören. Mein Vater und ich hatten zwar grundsätzlich keine Geheimnisse voreinander, aber wenn wir miteinander sprachen, ging es selten um Gefühle, sondern meist wurde über Gott und die Welt philosophiert und ewig um den heißen Brei geredet. Mit seinem Bruder redete mein Vater jetzt Tacheles und ich erhielt Einblick in seine Gefühlswelt: »Ich habe auch nicht regelmäßig einen Arzt kommen lassen, das war sicherlich ein Fehler. Ich war einfach frustriert von all den Spezialisten. Medikamente halfen bei Gretel gar nicht, es gab nur Nebenwirkungen wie schlechte Verdauung. Wir wurden aber dann vom Hausarzt gelobt, der sagte, eine so gute Behandlung wie hier bei uns könne man auch im besten Pflegeheim nicht kriegen. In diesem Gefühl habe ich mich dann gesonnt und die pflegerischen Aspekte vernachlässigt. Ich dachte, wir wursteln uns da schon alleine irgendwie durch.«
Mein nächtlicher Nachhauseweg führt mich vorbei am Bad Homburger Schloss mit seinem Wahrzeichen, dem ›Weißen Turm‹. Mir kommt eine Szene aus Heinrich von Kleists Theaterstück ›Prinz Friedrich von Homburg‹ in den Sinn. Ich hattedie Rolle des Prinzen mit Hilfe meiner Mutter einst für die Aufnahmeprüfung an einer Schauspielschule eingeübt:
O Gottes Welt, o
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