Vergiss mein nicht (German Edition)
Fast habe ich den Eindruck, sie freut sich darüber, dass wir in letzter Sekunde noch die Magensonde abgewendet haben. Sie lacht, zeigt auf Malte und erklärt:
»Ist doch schön, wie er da sitzt!«
Ich stimme ihr zu, und dann fragt sie mich: »Was machst du eigentlich?«
Malte und ich sind völlig baff – so eine geistesgegenwärtige Frage haben wir schon lange nicht mehr von ihr gehört.
»Nun ja«, stottere ich, »eigentlich bin ich gerade dabei, einen Film über dich zu machen.«
»Über mich? Wirklich?«
»Ja, und ich hoffe sehr, dass Du ihn noch sehen wirst!« Aber da hat Gretel schon wieder die Augen geschlossen und erinnert mich daran, wie unwahrscheinlich das ist.
Als mein Vater und ich draußen auf dem Gang vor dem Stationsbüro einen Kaffee trinken, zweifelt er schon wieder: »Schließen wir jetzt nicht ein Wunder aus, wenn wir ihr den ›Hahn‹ zudrehen?«
Eigentlich bedeutet die Entscheidung gegen die Sonde auch, dass wir Gretel ohne Umschweife nach Hause holen können. Doch mein geistig flexibler Vater stellt nun auch das wieder infrage: »Das Zimmer im Krankenhaus ist doch viel schöner als das zu Hause. Es gibt hier viel mehr Sonne und außerdem diesen wunderbaren Blick, den Gretel bestimmt genießt. Das Pflegebett hier ist auch viel praktischer als das zu Hause.« Vor allem müssten wir uns hier nicht um die pflegerischen Belange kümmern, sondern könnten uns ganz auf Gretels seelisch-körperliches Wohlbefinden konzentrieren, ihre Hände halten, sie streicheln, ihr etwas vorsingen oder erzählen. Wir hätten auch nicht den Stress, sie rund um die Uhr umzulagern. »Die Trauerfeier ist doch noch gar nicht vorbereitet«, stöhnt er in Gedanken an die Zukunft. »Ich habe den Ehrgeiz, dass das ein schöner Abschied wird. Was soll auf dem Programm stehen? Welche Musik soll gespielt werden, brauchen wir einen Organisten? Gretels Freundinnen vom Streichquartett haben sich noch nicht zurückgemeldet. Auch die Liste der Leute, die wir benachrichtigen müssen, ist noch nicht erstellt. Und wir wissen noch nicht einmal, wie sie überhaupt bestattet werden soll!«
Mein Vater bringt auch mich zum Nachdenken: Wollen wir unser Zuhause wirklich in ein Sterbehospiz verwandeln? Wären wir überhaupt fähig, mit dem Absauggerät umzugehen, wenn es darauf ankommt?
Als ich zur Nachtschicht in Gretels Zimmer komme, empfängt sie mich gutgelaunt:
»Mir geht’s schon ein bisschen besser.«
Im Fernseher flimmert gerade eine Talkshow, die meine Mutter offenbar verfolgt, und ich stelle den Ton lauter.
»Was bedeutet die Diagnose ›Alzheimer‹ für den Betroffenen und natürlich auch für die Angehörigen?«, fragt der Moderator in die Kamera.
»Ich weiß das nicht«, antwortet Gretel.
»Welche medizinischen Fortschritte gibt es überhaupt im Kampf gegen das schleichende Vergessen? Und ist unser Gesundheits- und Pflegesystem auf eine rapide alternde Gesellschaft ausreichend vorbereitet?«
»Nee, nee, nee, ich kann das überhaupt nicht«, ist Gretels Kommentar. Als zum Applaus im Publikum geschnitten wird, stellt sie beseelt fest:
»Da sind ganz freudige Leute.«
Ich nehme die Hand meiner Mutter und verfolge mit ihr zusammen die Sendung. Einer der Studiogäste ist ein älterer Herr, der erzählt, dass sich die Demenz seiner Frau als allererstes durch Wortfindungsstörungen bemerkbar machte.
»So ist es leider, leider, leider, so ist es weiter, weiter, weiter«, murmelt Gretel, als folge sie all dem sehr genau. »Ich muss mal gucken, ob das überhaupt. Ob das überhaupt –« Dann klappen ihre Augen zu, und sie ist weg. Ich stelle den Fernseher aus, streiche ihr die Haare aus der Stirn und ziehe ihr die Decke etwas höher über die Arme.
Eigentlich lebt Gretel schon seit geraumer Zeit gar nicht mehr für sich, sondern für uns, die wir noch Erinnerungenaufbauen. Wie eine wunderschöne Pflanze pflegen und hegen wir sie, bewahren sie vor dem Vertrocknen. Dürfen wir diese Blume verwelken lassen?
Am nächsten Tag zur Mittagszeit löse ich Gabija im Krankenhaus ab und bemerke zu meinem Schrecken, dass Gretel nicht mehr an der Infusion hängt. Ich rufe eine Krankenschwester und bitte um eine Erklärung. Sie sagt, dass sie Anweisung habe, meine Mutter nicht mehr zu ernähren, aber nicht wisse warum. ›Einen Tag vor ihrer Entlassung wird sie einfach abgehängt?!‹, denke ich: ›Eine Sparmaßnahme? Warum in aller Welt hat uns niemand gewarnt oder wenigstens Bescheid gesagt?‹ Ich verlange die Stationsärztin
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