Vergiss mein nicht (German Edition)
Einrichtungen zugelassen, und im Kanton Zürich in der Schweiz soll diese Maßnahme grundsätzlich untersagt sein. Je mehr ich erfahre, desto absurder erscheint mir die unreflektierte ›Aufklärung‹ der behandelnden Ärzte im Krankenhaus. Wozu eine Sonde, wenn die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass sie das Leben meiner Mutter nicht einmal verlängert, geschweige denn, dass dieses verlängerte Leben überhaupt erstrebenswert ist?
Zu guter Letzt telefoniert mein Onkel noch mit dem Oberarzt von Gretels Station. Zwischen den Kollege kommt es zu einem offenen Gespräch, während dem der Oberarzt meinem Onkel bestätigt, dass die meisten Dementen am Ende ihres Lebens einer Lungenentzündung durch Aspiration zum Opfer fallen und eine Ernährungssonde dieses Risiko sogar noch vergrößern könne. Am Ende des Gesprächs sagt mein Onkel dem Kollegen, dass er uns geraten habe, Gretel ohne Sonde nach Hause zu holen. Der Oberarzt gibt daraufhin sogar zu: »Ich hätte das auch so gemacht.«
Spätestens nach diesem Gespräch ist die Entscheidung für meinen Vater sonnenklar und er setzt ein Schreiben auf: ›Ich möchte den Termin für die Legung der Magensonde aussetzen,da ich und meine Kinder dabei sind, unsere Entscheidung zu revidieren.‹ Noch am Sonntagabend macht er sich auf den Weg ins Krankenhaus, um die Operation am nächsten Morgen abzuwenden. Auf der Station gibt er der Oberschwester die schriftliche Erklärung, die den Text überfliegt und erbost reagiert: »Aha! Gestern so, heute so?« Und Malte dann herausfordernd anblickt: »Dann können Sie Ihre Frau eigentlich auch gleich mitnehmen!«
Mein Vater sagt ihr, dass er nichts dagegen habe. Doch die Schwester schüttelt den Kopf. Das gehe natürlich nicht so einfach. Heute Nacht sei ja niemand mehr da, um so etwas zu entscheiden. Sie werde Maltes Erklärung hinterlegen, und er solle sich am nächsten Morgen mit den Ärzten besprechen.
Am Montag früh kommen mein Vater und ich wieder auf die Station. Der Oberarzt und die Stationsärztin begegnen uns schon im Gang. Der leitende Arzt fragt meinen Vater knapp: »PEG oder nicht?«
»Keine PEG.«
»Gut, dann ist ja alles klar.« Mit diesen Worten lässt er uns stehen. Offenbar ist das Thema damit für ihn erledigt: ›Klappe zu, Affe tot.‹
Als wenig später die Stationsärztin zum Blutabnehmen ins Zimmer meiner Mutter kommt, zeigt sie sich sensibler als ihr Vorgesetzter: »Sie haben sich umentschieden, was ja zeigt, wie schwer Sie sich mit der Entscheidung für oder gegen eine Sonde tun. Ich habe dafür natürlich Verständnis.« Sie findet, es spreche eigentlich nichts dagegen, Gretel in ihrem jetzigen Zustand nach Hause zu nehmen, die Lungenentzündung sei soweit behandelt und wir könnten ja immer noch zurückkommen, wenn wir doch noch eine Magensonde wollten. Wir sollten noch die Entzündungswerte der Blutanalyse abwarten, aber Gretel habe kein Fieber mehr, und ihr Atem klinge inOrdnung. Ich frage die Ärztin, wie lange Gretel ihrer Meinung nach ohne künstliche Ernährung überleben könne? Natürlich komme es stark darauf an, ob unsere Mutter überhaupt noch etwas zu sich nehme, aber sie glaube, sie könne auch mit wenig Nahrung noch mehrere Wochen leben. Sie sei schließlich gut genährt und erscheine zäh; ihr Körper wirke noch nicht so alt, und für ihre 75 Jahre sei sie physiologisch eigentlich in einem guten Zustand.
Der Oberarzt gibt mir seine Prognose in gewohnter Knappheit: »Ohne Essen: Wochen – ohne Flüssigkeit: Tage.«
Mein Onkel glaubt, Gretel habe noch mit etwa vier Wochen zu rechnen, wenn man ihr noch das zu essen und trinken gebe, was sie annehme. Er sagt, wir sollten ihren Körper und ihre Bedürfnisse nicht ignorieren; man könne ihr noch etwas Babynahrung geben und darauf achten, ihren Gaumen feucht zu halten, so dass sie kein Durstgefühl habe.
Gabija wiederum hat ganz andere Vorstellungen und ist weiterhin fest entschlossen, Gretel wieder gesund zu pflegen. Zur Einschätzung meines Onkels sagt sie: »Er lügt, er meinen nicht vier Wochen, sondern vier Jahre!« Sie hat wieder geträumt, dass sie mit Gretel zusammen im Park spazieren war. Irgendwie bringt es keiner übers Herz, ihr reinen Wein einzuschenken und zu erklären, was uns jetzt bevorsteht.
Die Übergangsschwester begrüßt unsere Kursänderung und empfiehlt, Gretels Blasenkatheter beizubehalten. Sie will für Absaug- und Sauerstoffgerät zu Hause sorgen.
Am Nachmittag ist Gretel so guter Dinge wie schon lange nicht mehr.
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