Vergiss mein nicht (German Edition)
mit ruhiger, klarer Stimme: »Wenn du noch was haben möchtest, kannst du es dir jetzt nehmen.«
»Und du?«
»Ich? Ich brauche nichts.«Während die Ärztin mir erklärt, warum die OP abgesagt wurde, denke ich, dass wir wieder mal unverschämtes Glück gehabt haben. Dem Operateur in der Endoskopie war ihre Fieberkurve nicht geheuer, da sie noch am Vortag 37,6 Grad gehabt hatte. Er wolle lieber das Wochenende abwarten und am Montag operieren, wenn sie dann fieberfrei geblieben sei. Ihr im jetzigen Zustand einen Fremdkörper einzusetzen, wäre gefährlich gewesen. Die Ärztin sieht den Verlauf aber gerade positiv, denn Gretels Temperatur sei ohne fiebersenkende Mittel weiter zurückgegangen. Das bedeute, dass das Antibiotikum gut anschlage. Das Wochenende könne sie mit der Infusion noch gut überstehen, am Montag müsse dann die Sonde gelegt werden.
Bisher hatte ich die Wochenenden im Krankenhaus immer als bedrohliche Zeit des Stillstands und der Vernachlässigung empfunden. Aber diesmal bin ich froh über die gewonnene Zeit, in der wir über unsere Entscheidung nachdenken können.
Am nächsten Tag sind Maltes Bruder und dessen Sohn, der auch Mediziner ist, zu Besuch im Krankenhaus, um sich ein Bild von Gretel zu machen. Sie nehmen eine ganz andere Position ein als die Ärzte hier im Haus.
Mein Cousin referiert, dass Magensonden statistisch gesehen bei Patienten, die in einem Zustand wie Gretel sind, nicht lebensverlängernd, sondern im Gegenteil eher lebensverkürzend wirken. Es könne nämlich zu Komplikationen wie Erbrechen oder Reflux kommen, sodass Mageninhalt in den Rachen gerate und dort wiederum verschluckt werden könnte. Sowieso aspiriert so ein Patient nicht selten den eigenen Schleim, den er abgehustet hat. Gelangten Fremdkörper in die Bronchien, könnte sich schnell wieder eine Lungenentzündung entwickeln. Dieses Risiko werde durch die Sondekeineswegs verringert. Außerdem könne sie durch den Patienten manipuliert werden und sich die Bauchdecke an der Anschlussstelle des Schlauches infizieren. Wenn kein ›Kostaufbau‹ mehr betrieben, also gar nicht mehr der Versuch gemacht werde, einem Menschen Nahrung über den Mund zuzuführen, bräche damit meist auch ein letzter Bereich der Hinwendung zu diesem Menschen weg, und damit auch seine Mobilisierung und Motivation zu leben. Auf diese Weise könne eine Sonde sogar einen früheren Tod begünstigen.
Mein Onkel, Facharzt für Innere Medizin mit einer Ausbildung als Psychotherapeut, beleuchtet die Sache von einer anderen Seite: »Nehmen wir mal den Idealfall an und sagen, dass die Sonde Gretel wieder richtig aufpäppelt. Wie lebenswert ist denn ihr Leben eigentlich noch? Wird ihr Dekubitus jemals abheilen? Wie groß ist die Zeitspanne am Tag, in der sie bewusst am Leben teilnimmt? Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, dass sie sich auch mit einer Sonde sehr bald wieder so etwas wie eine Lungenentzündung einfängt. Wie viel wollt ihr Gretel noch zumuten? Ich rate euch: Holt sie so schnell wie möglich zu euch nach Hause, um Abschied zu nehmen.«
Ganz anders als mein Onkel sieht es die Schwester meiner Mutter, deren Freundin mit einer Sonde lebt und mit der ich später wieder telefoniere. Ich berichte ihr, dass Gretel nicht operiert werden konnte und wir uns nun nicht mehr sicher sind, ob wir die Sonde überhaupt noch wollen. Gretels Schwester reagiert erschüttert. Damals, als ihre schwer demente Mutter nach einem Sturz mit einer Lungenentzündung im Sterben lag, hatte sie den Arzt gefragt: »Haben Sie auch wirklich alles für sie getan?« Der Arzt erklärte ihr, dass keine Hoffnung mehr bestünde.
Gretel dagegen ist gerade dabei, sich wieder von ihrer Lungenentzündung zu erholen. Aber besteht deswegen wieder Hoffnung für sie? Von ihrer Demenz wird sie sich bestimmtnicht mehr erholen, und wahrscheinlich auch nicht von ihrem Dekubitus. Hat sie nun ein ›Recht zu sterben‹? Oder ist es unsere Pflicht, sie am Leben zu erhalten? Diese Fragen sind natürlich heikel. Aus unserer Verwandtschaft höre ich von einem christlichen Arzt, der sich wundert, wie wir es überhaupt in Erwägung ziehen können, Gretel ›verhungern‹ zu lassen.
Ich versuche, mich umfassend kundig zu machen. Meine Recherchen im Bereich Palliativmedizin lassen ein immer deutlicheres Bild entstehen, das gegen eine Sonde für Gretel spricht. Bei Demenzerkrankten im fortgeschrittenen Stadium wird beispielsweise in Holland eine PEG-Sonde nur als Ausnahme in ganz speziellen
Weitere Kostenlose Bücher