Vergiss mein nicht (German Edition)
was!«
Etwas überrumpelt beginnt sie: »Nun – also, ich habe heute die Kinder abgeholt, und dann haben wir die Hühnerbrühe für dich gemacht.«
»Das habt ihr gut gemacht!«, lobt meine Mutter sie und wir lachen.
Bald darauf kommt es zu einer Weltpremiere, als mein Vater zum ersten Mal in unserer Familiengeschichte den Chorleiter mimt und uns zu einem Kanon anleitet, den Gretel früher gerne mit uns anstimmte, wenn wir im Auto in die Ferien aufbrachen:
A-l-l-e-s s-c-h-w-e-i-g-e-t, N-a-c-h-t-i-g-a-l-l-e-n,
locken mit süßen Melodien
Tränen ins Auge, Schwermut ins Herz ...
Spät nachts beim beschaulichen ›Feierabend-Bier‹ in der Küche wundert sich mein Vater: »Seltsam: Ich habe über all dem Treiben heute ganz meine Verzweiflung vergessen. Es ist so viel Leben im Haus.«
Am nächsten Morgen gibt es eine weitere Weltpremiere: Ich füttere meine Mutter mit Babybrei, so wie sie das früher bei mir gemacht hat. Es wurde auch Zeit, dass ich mich bei ihr revanchiere! Zwischen den Löffeln, die ich ihr vorsichtig verabreiche, murmelt sie: »Ich hab Angst«, oder: »Ich kann das nicht«, aber dann klappt es doch recht gut. »Das ist richtig, glaube ich«, findet sie und schöpft Selbstvertrauen beim Schlucken. Wieder stelle ich mir vor, dass Eltern eines neugeborenen Kindes sich ähnlich stolz und glücklich fühlen wie ich in diesem Moment, wenn das geliebte Wesen etwas zu sich nimmt, das es dringend benötigt. Natürlich gibt es bei einem Kind eine ganz andere Zukunftsperspektive als bei meiner Mutter. Bei ihr ist auch gar nicht sicher, ob das Füttern nicht mehr Probleme bringt, als dass es hilft – aber im Moment scheint es, dass sie es gerne annimmt, und ich nehme alle Gefahren in Kauf. Als ich nach knapp drei Stunden fertig bin mit dem halben Glas Babybrei, sagt sie:
»So, und was machen wir jetzt?«
Am nächsten Tag bin ich Zeuge einer Liebesszene zwischen meinen Eltern und ärgere mich zum ersten Mal seit Langem, keine Kamera dabei zu haben!
Malte beugt sich über Gretel, umarmt sie und flüstert: »Meine Liebste!«
»Hast du das überhaupt schon mal?«, wundert sich da Gretel, und Malte ist schwer beeindruckt.
»Ich glaub’, Gretel kann Gedanken lesen!«, sagt er zu mir gewendet. »Gerade als ich ›Meine Liebste‹ gesagt habe, dachte ich: ›So was hab ich doch noch nie zu ihr gesagt?‹«
Wie um meinem Vater zu verdeutlichen, dass sie seine Gedanken bestimmt nicht immer erraten kann, fragt Gretel ihn einen Moment später:
»Was denkst du?«
»Ich freu mich, wenn du lächelst.«
»Das ist doch schön.« Die beiden umarmen sich. Es ist ein inniger Moment. Dann steht Malte auf und geht in die Küche. Gretel blickt ihm hinterher und zieht anerkennend die Augenbrauen hoch: »Der war aber nett!«
Zum ersten Mal, seitdem Gretel nach ihrer Aspiration ins Krankenhaus kam und die ›atemlose‹ Zeit begann, in der ihr Leben ständig am seidenen Faden hing, habe ich das Gefühl, etwas durchatmen zu können, und ich fühle mich stark genug, weiter an meinem Film zu arbeiten. Ihn so zu belassen, wie er ist, und die letzte Phase in Gretels Leben einfach zu ignorieren oder nur durch eine Texttafel zu erwähnen, scheint mir nicht richtig. Die Ereignisse im Krankenhaus konnte und wollte ich nicht mit der Kamera dokumentieren, es war alles zu aufwühlend für mich. Aber jetzt, da Gretel wieder zu Hause ist, kann ich mir vorstellen, noch etwas zu filmen. Meine Familie ist einverstanden, und so lade ich am Wochenende meinen Kameramann zu uns ein. Adrian ist über die Jahre nicht nur mein engster Mitarbeiter, sondern auch ein sehr guter Freund geworden. Der Film über meine Mutter und meine Familie ist in dieser Form nur möglich gewesen, weil er sich über längere Zeit hinweg in meine Familie eingelebt hat und für mich wie ein Bruder geworden ist.
Wir drehen zunächst lange Einstellungen von Gretel in ihrem Pflegebett und dokumentieren die Sisyphusarbeit, ihren ständig offenstehenden Mund feucht zu halten. Doch als meine jüngere Schwester mit ihren beiden Söhnen zu Besuch kommt, ergibt sich eine viel bessere Szene.
Es schließt sich ein Kreis: Die Kinder waren beim letzten gemeinsamen Dreh vor anderthalb Jahren noch zwei kleine Rabauken gewesen, die meiner Mutter arg auf die Nerven gingen. Der Jüngere wetzte als grunzendes Wildschwein durchs Wohnzimmer und lärmte so misstönend mit einer Mundharmonika, dass es Gretel ein Graus war.
Diesmal verhalten sich die kleinen Kerle, mittlerweile elf
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