Vergiss mein nicht (German Edition)
zu sprechen. Sie kommt wenig später genervt ins Zimmer und beschwert sich, dass ich die Chefarzt-Visite verpasst hätte: »Jetzt bin ich heute schon zum dritten Mal hier! Warum können Sie sich nicht an die Visitenzeiten halten, wenn Sie Fragen haben? – Aber gut, dann mache ich eben noch mehr Überstunden! Was wollen Sie denn unbedingt wissen?«
»Warum wurde meine Mutter von der Infusion getrennt?«
»Ihre Arme sind zu entzündet und dick. Und auf einen Tag mehr oder weniger kommt es ja jetzt auch nicht mehr an.« Mit einem kurzen Nicken verabschiedet sich die Ärztin. Ich bin sprachlos. Wenn einem nur noch wenige Tage und Stunden bleiben, ist ein Tag mehr oder weniger doch dramatisch viel! Gretels Sanduhr läuft sowieso schon seit einer Weile viel schneller ab als normal. Aber heute ist aus dem leise rieselnden Sand ein Erdrutsch geworden!
In meinem Hals hat sich ein dicker Kloß gebildet. Ich mache mich daran, meiner Mutter ein Gläschen Wasser zu verabreichen. Das Unterfangen dauert über zwei Stunden. Ständig in der Angst, sie könnte sich verschlucken, bin ich äußerst vorsichtig und mache immer wieder kleine Sprachtests, ummich zu vergewissern, dass ihre Stimme noch normal klingt und ihr nichts in den falschen Hals geraten ist. Ist Gretel eingenickt, muss ich warten, bis sie wieder wach ist und das Wasser in winzigen Schlückchen annimmt: »Oh bitte«, flüstert sie ab und zu. Wie in aller Welt soll man jemandem auf diese Weise genügend Flüssigkeit verabreichen? Waren das nicht anderthalb bis zwei Liter pro Tag?
Als ich ein wenig Wasser auf Gretels Decke verschütte, sagt sie betrübt: »Oh, das ist so schade, schade, so schade.«
Mich überkommt ein Schwall von Gefühlen, und ich umarme sie: »Gretel, ich hab dich ganz doll lieb!«
»Warum?«, fragt sie mich verdutzt.
»Weil du meine Mutter bist.«
»Das stimmt.« Dann lächelt sie und fügt hinzu: »Das war sehr schön.«
Kapitel 14
Der letzte Reigen
Malte hat für Gretels Heimkehr das Treppenhaus mit lauter kleinen Blümchen geschmückt. Auch das Wohnzimmer ist mit Blumen, Figuren, Kerzen und Bildern festlich dekoriert. Hier hat das Pflegebett jetzt seinen Platz gefunden und wirkt beinahe hochherrschaftlich, da es nicht mehr in dem engen Schlafzimmer meiner Mutter eingepfercht steht. Ich habe auf dem Bett einen kleinen ›Hofstaat‹ aus Stofftieren für sie bereitgestellt, in der Hoffnung, die einst beliebten Kuscheltiere möchten ihr vertraut sein.
Aber als ich den beiden Sanitätern dabei behilflich bin, Gretel aus dem Krankenwagen in die Wohnung zu tragen, habe ich den Eindruck, dass ihr alles neu und ungewohnt vorkommt. Immerhin scheint sie sich wohlzufühlen und von nun an thront sie im Mittelpunkt unseres Zuhauses.
Am Abend empfängt Gretel strahlend ihre jüngere Tochter, die mitsamt Mann und den beiden Enkeln zu Besuch kommt. Kerzen brennen, die Stimmung ist festlich, fast wie an Heiligabend, zwar ohne Weihnachtsbaum, aber mit dem schönsten Geschenk: Unserer Gretel! Malte ärgert sich zwar weiterhin, dass sich das teure Pflegebett nicht wie im Krankenhaus auf eine geeignete Höhe herunterfahren lässt, aber zur Freude der lego-technik- begeisterten Enkel kann man die Großmutter mit dem elektrischen Bettgestell nun auf erstaunliche Höhe hochfahren. Ich frage mich bei dem Anblick, ob man das Bett für drei Meter große Pflege-Riesen konstruiert hat. Jedenfallsschwebt Gretel plötzlich auf Kopfhöhe unter der Decke und genießt den neuen Ausblick. Mit weiß aufgewirbeltem Haar sitzt sie wie ein erleuchteter Magier auf einem fliegenden Teppich. Keiner weiß, wohin ihre Reise geht.
Mein Schwager hat einen guten Rotwein dabei und wir wollen anstoßen. Er hat die Idee, Gretel per Wattestäbchen etwas vom hoch geschätzten Rebensaft auf die Zunge zu kredenzen. Meine Schwester zaubert eine Hühnerbrühe hervor, die Gretel bei Kräften halten soll. Äußerst vorsichtig flößt sie ihr die Bouillon mit einem kleinen Löffel ein.
»Oh je, das ist schwierig«, sagt Gretel und hat große Mühe beim Schlucken.
»Das machst du super!«, lobe ich, aber sie schüttelt skeptisch den Kopf:
»Das ist gar nicht so leicht.«
»Aber du machst es trotzdem sehr gut!«
Da guckt sie mich an und stellt fest:
»Du bist interessant, ich nicht.«
Nach dem Essen stehen wir um Gretels Bett herum, noch zu vorgerückter Stunde ist sie munter und aufgeweckt. Als eine kleine Gesprächspause entsteht, sagt sie zu meiner Schwester: »Erzähl doch mal
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