Vergiss mein nicht (German Edition)
uns solidarisch zu Gretel auch eine PEG-Sonde legen lassen. Das soll gar nicht so teuer sein! Und die Nahrung gibt es gleich hier um die Ecke bei Fresenius ! Dann können wir uns abends vor dem Fernseher einfach einen Beutel aufhängen, an den wir alle gemeinsam unsere Mägen anschließen. Dafür kann man bestimmt einen Mehrfachadapter auftreiben.
Wäre das nicht überhaupt die Idee? Nie mehr Zeit verlieren beim Arbeiten durch Essenspausen: einfach die PEG anschließen. Das würde mir doch gegenüber meinen Regiekollegen einen deutlichen Wettbewerbsvorteil verschaffen! Meine Gedanken werden immer abstruser, bis ich mich mit meiner Freundin beim romantischen Candlelight-Dinner sehe. Neben dem Tisch baumelt ein Sack mit Indian-Curry, der direkt mit unseren Bäuchen verbunden ist: Ich habe sie schließlich doch noch von den Vorteilen einer Sonde überzeugt – Liebe geht eben durch den Magen!
Als mein Wecker klingelt, habe ich gar kein gutes Gefühl im Bauch. Ich stehe auf und beeile mich, zu meiner Mutter ins Krankenhaus zu kommen. Dort begegne ich Gabija, die mirin Höchststimmung berichtet: »Greteltschik mir heute sagen: ›Schöne Frau!‹« Sie geht zu meiner Mutter ans Bett und gibt ihr einen dicken Kuss auf die Wange: »Du mein Liebling!«
Gretel schlägt die Augen auf und sagt in ihrer typischen übertriebenen Verwunderung, indem sie ihre Augenbrauen weit hochzieht: »Was?! Ich?«
Ich komme auch an ihre Seite: »Gretel, wie geht es dir?«
»Gut«, antwortet sie und schließt die Augen wieder. Wären ihre Wangen nicht ganz so rot, würde sie einen gesunden Eindruck machen. Gabija erzählt mir, sie sei heute während ihrer Nachtwache kurz eingenickt und habe geträumt, dass sie Gretel wie ein kleines Baby in ihrem Arm gehalten habe. Sie deutet das als ein gutes Zeichen. Bald werde meine Mutter bestimmt wieder laufen lernen, wie ein Kleinkind. Ich wünschte, ich könnte Gabijas Optimismus teilen. Ich habe eher das Ende als einen Neuanfang vor Augen, wenn ich Gretel friedlich und mit einem Lächeln auf den Lippen vor mir liegen sehe.
Gut gelaunt verabschiedet sich Gabija und macht sich auf den Nachhauseweg. Die bevorstehende Operation für die Magensonde scheint für sie nichts Erschreckendes zu haben.
Sollten wir diese Sonden-Operation nicht einfach abblasen und meine Mutter sofort nach Hause holen, so wie sie ist? Doch dafür ist es eigentlich zu spät, mein Vater hat die Einverständniserklärung unterschrieben. Und gerade ist er zu Hause und schläft tief. Soll ich versuchen, ihn anzurufen, oder Gabija sagen, sie solle ihn wecken, um meine Bedenken mit ihm zu teilen? In diesem Moment geht die Tür auf und ein Pfleger erscheint, um Gretel abzuholen. Stumm sehe ich mit an, wie sie hinausgeschoben wird. Ich bin unfähig, mich zu verabschieden, ich will, dass es kein Abschied ist!
Ich rufe meine jüngere Schwester an, die meine Bedenken gut verstehen kann. Sie erzählt mir von einer Freundin, die Erfahrungen mit einer Magensonde bei ihrem schwerkrankenKleinkind gemacht hat. So eine Sonde führe anfangs oft zu Erbrechen. Man brauche eine Weile, bis die richtige, verträgliche Nahrung gefunden sei. Warum wurden wir hier im Krankenhaus gar nicht auf diese Probleme hingewiesen?
»Mit der Magensonde wird Gretel dann stabiler, hat mir die Ärztin gesagt«, versuche ich unsere Entscheidung zu rechtfertigen. »Und vielleicht kann sie dann doch wieder anfangen, durch den Mund zu essen.«
Meine Schwester ist gerne bereit, nicht weiter zu problematisieren, und gibt sich optimistisch: »Ich habe die Hoffnung, dass wir sie dann am Dienstag oder Mittwoch nach Hause holen können – dann machen wir eine Willkommens-Party!«
Doch schon nach einer halben Stunde öffnet sich die Tür, und Gretel wird zurück in ihr Zimmer geschoben. Die Schwester sagt, sie hätten die Sonde nicht gelegt und die Ärztin würde gleich kommen, um das zu erklären.
»Das heißt, heute wird sie nicht operiert?«, frage ich verwirrt.
»Sie war bei einer Voruntersuchung, und jetzt ist sie wieder hier. Alles Weitere erklärt Ihnen die Ärztin.« Die Schwester lässt mich mit meiner Mutter allein, die mit weit aufgesperrtem Mund schnarcht. Ich bin aufgewühlt und mir kommen die Tränen. Hat man sie aufgegeben – ist dies das Ende? Ich setze mich neben sie, streichele ihre Hand und seufze:
»Ach, Gretel ...« Da schlägt sie die Augen auf und fragt:
»Was brauchst du?«
»Ich? Na dich, Gretel, dich!«
Gretel guckt mich gütig an und sagt
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