Vergiss mein nicht (German Edition)
die Strafanzeige für meinen Diebstahl aufsetzte. Ich schrieb von einer ›unentschuldbaren Tat, die durch nichts zu rechtfertigen sei‹, und aufgrund meiner ›klaren Schuldeinsicht‹ wurde daraufhin von einer Vorstrafe abgesehen. So stand eigentlich meiner juristischen Karriere und dem Richterberuf nichts mehr im Weg. Aber meine Mutter zeigte gar keine Ambitionen mehr, meine Laufbahn zu lenken, und ich konnte mich voll auf meine eigenen Ziele konzentrieren.
Ein weiterer Effekt der kleidungsbedingten Außenseiterrolle in der Schule war, dass ich versuchte, durch extravagante Kunstprojekte Anerkennung zu erlangen. Als wir im Kunstunterricht das Thema Dadaismus durchnahmen, kam für mich der Durchbruch. Wir durften eine Arbeit formal völlig frei gestalten, und ich drehte mit einem Klassenkamerad einen Videofilm, den wir mit einer Live-Performance kombinierten. Die Show kam derart gut an, dass wir bald eine Fortsetzung drehten und unsere Film-Happenings vor wachsendem Publikum in der Schule aufführten. Dann kamen wirauf die Idee, eine Dokumentation über den Abiturs-Jahrgang zu drehen, vom Schulalltag über den Showdown der letzten Prüfungen bis zum Happy End der ausschweifenden Abi-Fete. Den Film boten wir dann beim Abschlussball zum Verkauf an, und ein Großteil der Jahrgangsstufe kaufte eine VHS-Kassette als Andenken. Mit den Einnahmen konnten wir uns eine bessere Kamera leisten oder einen neuen Videorekorder anschaffen. Der ›Abi-Film‹ wurde für ein paar Jahre eine feste Einrichtung, nebenher drehten wir auch einige Kurzfilme und ich gewann einen hessischen Jugendfilmpreis.
Nach dem Zivildienst machte ich mich auf, um meiner Kindheitsbegeisterung für das Dschungelbuch nachzugehen und schlug mich für vier Monate als Backpacker in Indien durch. Ich sah Tiger, ritt auf Elefanten, kämpfte gegen Kakerlaken und nahm diverse bewusstseinserweiternde Substanzen. Dabei wurde ich beraubt, nach Strich und Faden betrogen und lernte schräge Vögel aus aller Herren Länder kennen. Ein britischer Astrologe, der in Goa ein Buch über Jesus schrieb, prophezeite mir schließlich eine glänzende Karriere als Filmemacher. Allerdings würde ich dann oben auf der Karriereleiter schrecklich arrogant werden, in einem Cabrio herumdüsen, meine Freunde vergessen und mich selbst verlieren. Kein Problem, dachte ich mir: Jetzt war ich ja gewarnt!
Mit jeder Menge Ideen im Gepäck kehrte ich nach Deutschland zurück und wollte an einer Filmhochschule studieren. Zuerst aber machte ich es mir wieder bei meiner Mutter gemütlich. Die empfing ihren Jüngsten nur allzu gerne mit seinem Lieblingsessen: Mamas Lasagne und als Nachtisch Milchreisauflauf mit Apfelmus und Zimt und Zucker. Zu Hause gab es reichlich Platz für mich, schließlich waren meine beiden Schwestern längst ausgezogen. Auf Anraten meiner Mutter schrieb ich mich in Frankfurt an der Uni für Englisch und Geschichte ein, zwei Fächer, die sie selber studierthatte. Aber anstatt wie sie ein Examen mit summa cum laude zu machen, glänzte ich als Scheinstudent par excellence, indem ich zwei Jahre lang keine einzige Vorlesung besuchte. Ich wollte lieber das Filmhandwerk lernen und begann mit Praktika in Filmproduktionen, arbeitete als Set-Runner bei Werbedrehs und wurde Schnittassistent bei einer Krimiserie.
Gretel ließ sich von meiner Filmbegeisterung anstecken, und wir gingen ein- oder zweimal die Woche ins Kino. Danach tranken wir ein Gläschen Wein und diskutierten den neusten Woody Allen oder kamen überein, dass Kubrick doch unübertroffen war. Die Jahre verflogen, und ich dachte: ›Moment mal! Jetzt bist du 22 und immer noch bei Mami zu Hause?‹ Doch das Problem war, dass ich gar keine Probleme zu Hause hatte. Es war einfach zu schön bei Muttern.
Meine Kindheit verlief im Allgemeinen überhaupt konfliktfrei und harmonisch. In der Mittelstufe hatte ich gegenüber meinen Freunden sogar das Gefühl, ich sei uncool, weil ich gar keinen Ärger zu Hause hatte, nie geschlagen wurde und gar keinen echten Groll gegen meine ›Alten‹ hegte, wie es bei den anderen angesagten Typen in meiner Schule der Fall zu sein schien. Als Zwölf- oder Dreizehnjähriger schenkte ich also meiner Mutter dann eine Zeit lang keine Aufmerksamkeit mehr, strafte sie ohne ersichtlichen Grund mit Nichtachtung, einfach um einmal nicht das liebe Muttersöhnchen zu sein. Tatsächlich reagierte Gretel verstört und forderte mich eines Tages auf, sie gefälligst anzugucken, wenn wir miteinander
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