Vergissmichnicht
um seine Frau. Die Ärzte hatten ohnehin dringend empfohlen, dass sie noch ein paar Tage zur Beobachtung bleiben und auch intensiv mit dem Krankenhauspsychologen sprechen sollte, um der traumatischen Ereignisse einigermaßen Herr zu werden. Der der Gegenwart und der der Vergangenheit. Und nun saß Marlene schon wieder an der Bettkante und war im Aufbruch begriffen, nachdem sie sich quasi selbst entlassen hatte. Und nicht nur das, sie wollte auch noch einen Ort aufsuchen, der sie unter Garantie an die schrecklichen Geschehnisse von damals erinnern würde. Den Ort, an dem sie sich nach der Vergewaltigung für Monate verkrochen hatte. Das Haus ihrer Mutter.
Marlene streifte die Hand ihres Gatten von ihrer Schulter, drehte sich halb zu ihm herum, nahm seine Hand in beide Hände und blickte ihm direkt in die Augen. »Ich bin mir sicher, dass es gut, ja sogar richtig ist«, sagte sie. »Ich bin 30 Jahre davongelaufen. Jetzt ist es endlich Zeit, mich der Vergangenheit zu stellen. Und zwar wie eine erwachsene Frau.« Sie küsste ihn auf den Mund, eine zwischen Eheleuten durchaus normale Geste, die es zwischen den Didiers in den letzten zehn Jahren aber nicht mehr gegeben hatte. Charles spürte, dass sein Herz schneller zu schlagen begann. So schrecklich die letzten Tage auch gewesen waren – sie hatten doch ihr Gutes gehabt. Sie hatten ihm, er konnte es fast nicht glauben, seine Marlene, seine innigst geliebte Marlene, zurückgebracht.
Marlene stand auf und blickte ihren Gatten abwartend an. »Kommst du?«, fragte sie mit leichter Ungeduld in der Stimme.
»Ja, aber die Abschlussuntersuchung …«, wandte Charles ein. »Wenigstens ein Mal solltest du dich noch durchchecken lassen, meinst du nicht?«
»Habe ich schon, heute Mittag«, sagte Marlene und nahm die Plastiktüte, in der sich die Kosmetika befanden, die ihr Mann ihr am Morgen noch besorgt hatte. Außerdem hatte er ihr neue Kleider gekauft, inklusive Unterwäsche, was sie rührend fand. Sie konnte sich vorstellen, wie deplatziert sich Charles in einem Damenbekleidungsgeschäft gefühlt hatte. Die Sachen waren etwas zu groß, denn Charles hatte sie in ihrer alten Größe erstanden und während ihrer Gefangenschaft hatte sie kräftig abgenommen. Wieder einmal war Marlene gerührt. Welcher Ehemann kannte schon die Kleidergröße seiner Frau, vor allem dann, wenn er so viel beschäftigt war wie Charles.
Auch ihren Stil hatte er einigermaßen getroffen: Charles hatte seiner Frau einen hellen Hosenanzug und eine dezent geblümte Bluse gekauft. ›Zara‹stand auf der Papiertüte. Marlene schmunzelte. Nicht ganz die gleiche Liga wie Chanel, Emilio Zegna, Burberry, Gucci und Dior, aber kam es darauf an?
»Jetzt komm«, sagte sie und lächelte ihrem Mann zu.
Vom Krankenhaus war es nicht weit bis zur Fähre nach Überlingen. Das Ehepaar parkte das Auto hinter einem weißen Lieferwagen mit der blauen Aufschrift ›Bodenseefelchen‹, verließ den Wagen und stieg nach oben, auf das Aussichtsdeck. Sie stellten sich ganz vorne an die Brüstung. Charles streckte die Hand aus, um seine Frau an sich zu ziehen, ließ sie dann aber schüchtern wieder sinken. Er war es nicht mehr gewohnt, sie zu berühren, fürchtete eine der schon so oft erfolgten Zurückweisungen. Jetzt, wo er wieder hoffen durfte, hatte er umso größere Angst davor, dass sie sich wieder zurückzöge. Denn in den letzten Tagen hatte er gemerkt, wie sehr er sie noch immer liebte, das Gefühl hatte sich regelrecht in ihm aufgebäumt und all die festgetretenen und harten Schichten durchbrochen, die er in den vielen Jahren auf die Liebe geschüttet hatte. Es war, als hätte er eine Schutzmauer für das zarte Pflänzchen Liebe gebaut, die dafür sorgte, dass es unter Marlenes Kälte nicht erfror. So hatte es all die Jahre hinter den Mauern seines Herzens überlebt und dürstete nun nach ihrer Zuneigung, nach ihrer Wärme, die sich immer stärker und unbeirrbar den Weg durch ihre Wesenskälte bahnte, als gäbe es auch in ihr ein Pflänzchen, das, hinter einer Mauer verborgen, auf das Ende der eisigen Zeiten wartete und das nun, von einem Sonnenstrahl getroffen, im Wachsen begriffen war.
Charles hoffte es, wie er kaum je etwas gehofft hatte. Und er, der große Feinkost-Boss vor dem tausende Mitarbeiter zitterten, fühlte sich schüchtern und unsicher wie selten zuvor in seinem Leben.
Und dann nahm Marlene ganz selbstverständlich seine Hand. Charles drückte sie erfreut. »Schön, dich wiederzuhaben, Marlene«,
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