Vergissmichnicht
weißen Schürzchen zusammen, als müsse sie sich an sich selbst festhalten, weil sie sonst aus lauter Respekt und Angst vor ihrer Herrin umfallen würde. »Soll ich Jean-Luc Bescheid sagen?«
»Ja bitte«, sagte Marlene knapp. »Lassen Sie den Wagen vorfahren.«
Als sie wenige Minuten später vor das Haus trat, stand der Maybach schon abfahrbereit in der Auffahrt. Jean-Luc, der Chauffeur, der seit dreißig Jahren im Dienste der Familie stand, wartete neben der Hintertüre und hielt sie ihr auf. Jean-Luc stand ihr nicht immer zur Verfügung. Normalerweise brauchte Charles, ihr viel beschäftigter Mann, Jean-Luc häufig. Er hatte während des Arbeitstages oft zahlreiche Fahrten und ließ sich stets gerne von Jean-Luc kutschieren. »Zeit ist Geld«, pflegte er immer zu sagen. »Und wenn Jean-Luc fährt, kann ich im Auto noch Akten durchsehen oder andere geschäftliche Dinge erledigen.« Marlene fuhr dann mit ihrem eigenen Wagen, einem flotten, schneeweißen BMW Cabriolet. Doch Charles war verreist und wurde erst heute Abend zurückerwartet. Insofern nahm Marlene Jean-Lucs Dienste gerne in Anspruch, zumal es bedeutete, dass sie sich in der Stadt nicht auf lästige Parkplatzsuche begeben musste. Die Touristen strömten scharenweise nach St. Tropez, Parkplätze waren schwer zu bekommen, selbst der riesige Parkplatz am Hafen war meist überfüllt.
Marlene nickte Jean-Luc knapp zu und glitt auf die cremefarbenen, kühlen Lederpolster.
»Wohin darf ich Sie bringen, Madame?«, fragte Jean-Luc mit ausgesuchter Höflichkeit und warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel.
»Fahren Sie einfach los, in Richtung Stadt«, gab Marlene Anweisung. Mit geübtem Griff zog sie ihren silbernen Taschenspiegel aus der Innentasche ihres Louis-Vuitton-Shoppers, zog sich die Lippen nach, presste sie kurz aufeinander und packte Spiegel und Lippenstift wieder ein.
»Sehr wohl, Madame«, sagte Jean-Luc, öffnete per Fernbedienung das große, eiserne Tor, das sich in der dicken Mauer befand, die das direkt am Meer gelegene Anwesen von der Straße trennte, und fädelte den Maybach geschickt in den dichten Verkehr auf der Uferstraße ein.
»Halten Sie bitte hier«, sagte Marlene wenig später, als rechts der Straße die Chanel-Niederlassung auftauchte. »Ich gehe zu Fuß weiter. Ich erwarte Sie in einer Stunde am Hafen, hinteres Ende.«
»Sehr wohl, Madame«, erwiderte der Chauffeur. »Aber soll ich nicht warten, bis Madame die Einkäufe erledigt hat, und sie dann im Kofferraum verstauen? Dann müssen Madame nicht so schwer tragen.«
»Ich habe doch gesagt, Sie sollen weiterfahren«, zischte Marlene schärfer als beabsichtigt.
»Sehr wohl, Madame«, sagte Jean-Luc kühl. In seinem kleinen, faltigen Gesicht, das sie durch den Rückspiegel sehen konnte, war keine Regung zu erkennen, aber sie bemerkte trotzdem, dass er sich vor ihr zurückzog, spürte, dass er ihr ihren scharfen Ton übel nahm. Dass er sie nicht mochte. Tränen schossen ihr in die Augen. Rasch zog sie ihre Sonnenbrille, ihre teure, große Sonnenbrille, aus der Tasche und setzte sie auf. Er ist doch nur der Chauffeur, dumme Gans, dachte sie. Und dann: Wer bist du denn, dass du nicht mal die Zuneigung eines solch einfachen Mannes erringen kannst? Wenn ich heute stürbe, überlegte sie voller Selbstmitleid, dann würde ich niemandem fehlen.
Jean-Luc hatte das Auto verlassen, war um den Wagen herumgegangen und öffnete ihr die Türe. Sie stieg aus, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, und ging durch den großen, gepflegten Garten, der zum Chanel-Gebäude, einer wunderschönen alten Villa, führte. Auf den steinernen Treppen, die zur Eingangstüre emporführten, merkte sie, dass ihre Beine zitterten.
Der afrikanische Türsteher stand, als hätte er einen Stock verschluckt. Marlene lächelte ihn zaghaft an: Nachdem sie sich die Missbilligung ihres Chauffeurs zugezogen hatte, dürstete es sie nach etwas menschlicher Wärme. Und sei es nur ein geschäftsmäßiges Lächeln auf den Lippen eines Türstehers. »Bonjour«, sagte sie leise. Ein verachtungsvoller Blick traf sie. Scharf wie ein Messer fuhr er nah an ihrem Herzen vorbei und hinterließ eine schmerzende, brennende Wunde. Sicher, dachte Marlene bitter. In meiner Welt grüßt man keine Türsteher. Und tut man es doch, outet man sich als Billigtourist, der im Hinterland wohnt und nach St. Tropez kommt, um einmal den Duft der Schönen und Reichen zu schnuppern. Und dafür verachten einen dann selbst die
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