Vergissmichnicht
zu ihren Kollegen, die oben, am höher gelegenen Uferweg, an ihrem Einsatzwagen standen.
»Bitte«, sagte Alexandra.
Ole setzte sich neben sie auf einen der großen Steinbrocken, die in unregelmäßigen Abständen am Ufer lagen. »Ich würde Ihnen das jetzt gerne ersparen, aber ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.«
»Ja«, sagte Alexandra und ihre Stimme klang seltsam fremd in ihren Ohren und schien von weit, weit her zu kommen. »Ja, ich weiß.«
Wie viel Zeit vergangen war, seit sie die Leiche der alten Dame gefunden hatte, konnte sie nicht sagen. Eine halbe Stunde? Eine ganze? Sie wusste nur noch, dass sie geschrien hatte. Sie erinnerte sich, wie gespenstisch ihr Schrei durch die stille Nacht gehallt hatte. Und wie gruselig sich das Gefühl des trocknenden Blutes an ihren Fingern anfühlte. Jetzt war kein Blut mehr erkennbar. Wie in Trance war sie den Hang hinunter zum See getaumelt und hatte die Hände tief in das Wasser getaucht, sie dann wieder herausgezogen und am Gras abgerieben. Immer und immer wieder. Sie mochte mit der einen blutigen Hand die andere nicht berühren, deswegen konnte sie sich das Blut nicht mit den Händen von den Fingern reiben. Danach, daran erinnerte sie sich sehr klar, hatte sie ihr Handy aus der Tasche geholt und die Polizei gerufen. Auch der Notarzt war gekommen. Große Lampen hatten sie aufgestellt, als sie begannen, die alte Frau zu untersuchen. Alexandra hatte nicht hinsehen wollen, aber sie konnte nicht anders. Sie hatte den Blick gehoben und nach oben gestarrt. Was sie inzwischen zutiefst bereute. Denn nun hatte sie das Gefühl, als habe sich das entsetzliche Bild für immer auf ihrer Netzhaut eingebrannt. Ob die Tränen, die einfach nicht kommen wollten, taugen würden, die Augen aus- und das schreckliche Bild herunterzuwaschen?, fragte sich Alexandra flüchtig und zog die Decke enger um sich. »Mir ist schlecht«, murmelte sie. »Ich glaube, ich kann nicht … bitte geben Sie mir ein wenig Zeit.«
»Natürlich«, sagte Ole rasch. »Aber ich muss Sie bitten, sich zu unserer Verfügung zu halten und so bald als möglich auszusagen.« Er beugte sich zu ihr hinunter und berührte sie leicht an der Schulter. »Versuchen Sie, tief zu atmen. Und Sie sollten die Beine hochlegen«, empfahl er und nickte der Frau vom DRK zu, die mit verschränkten Armen an den Rettungswagen gelehnt stand und zu ihnen herunterblickte. »Man wird sich um Sie kümmern. Ich komme später nochmals zu Ihnen und werde Ihnen dann leider auch ein paar Fragen stellen müssen. Schaffen Sie das?«
»Klar«, sagte Alexandra mit einem dünnen Lächeln.
»Gut«, befand Ole, ebenfalls mit leichtem Lächeln. Damit wandte er ihr den Rücken zu und ging der Frau des DRK, die sich wieder auf den Weg zu Alexandra gemacht hatte, entgegen. »Sie ist noch nicht wirklich vernehmungsfähig«, sagte er leise.
»Das wundert mich nicht«, antwortete die DRKlerin und es klang ein wenig schnippisch. Ob alle badischen Frauen so waren?, fragte sich Ole. Bisher hatte er nur die giftige Grundel, die bedrohliche Bäckerin und die schnippische DRK-Frau kennengelernt. Und die Schöne am Seeufer …
»Was glauben Sie, wie lange wird es dauern?«, fragte er.
Die Frau zuckte die Achseln. »Schwer zu sagen.«
Ole nickte ihr zu und stieg den Hang hinauf zum Fundort der Leiche, wo seine Kollegen von der Spurensicherung inzwischen angekommen waren und mit der Arbeit begonnen hatten. Dort, wo die Leiche lag, war es taghell, die Kollegen arbeiteten unter Hochdruck.
Ole spürte feinen Nieselregen auf dem Gesicht und blickte gen Himmel. Sehen konnte er nichts, wenn sich der Nebel inzwischen auch ein wenig gelichtet hatte. Aber als er sein Gesicht wieder senkte, war es wesentlich feuchter als noch vor ein paar Sekunden. »Verdammt!«, fluchte er. »Damit die ohnehin schon wenigen Spuren auch noch verwischt werden. Auf welcher Seite stehst du eigentlich, Petrus? Ich dachte immer, du wärst einer von den Guten.«
»Wie bitte?«, fragte Monja Grundel pikiert.
»Petrus«, antwortete Ole gelassen. »Ich dachte immer, dass er zu den Guten gehört. Aber jetzt verregnet er uns hier die Spuren.«
Monja Grundel stemmte die Hände in die ausladenden Hüften und blitzte ihren Kollegen böse an. »Herr Strobehn, dass eins klar ist: Wir haben jetzt keine Zeit für solchen Schnickschnack. Sie sollten nicht mit Petrus kommunizieren, sondern sich lieber auf Ihre Arbeit hier unten auf der Erde konzentrieren. Es ist ja nicht so, dass Sie nichts zu tun
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