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Vergraben

Vergraben

Titel: Vergraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Cross
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ihm, der vor langer Zeit von den Nachrichten bewegt und erzürnt und geängstigt worden war, war längst nicht mehr vorhanden.
    Nach den Titelthemen hörte er Folgendes: Nun fast vier Jahre nach ihrem Verschwinden startet die Familie der vermissten Elise Fox wieder einen Aufruf mit der Bitte um Informationen .
    Nathan setzte sich auf.
    In diesem Hotelzimmer, in dem es keine Geister gab, schlug und peitschte das blaue Licht des Fernsehers sein Gesicht und seinen nackten Körper. Um 18.15 Uhr endete der Nachrichtenüberblick. Der Nachrichtensprecher sprach direkt in die Kamera: Die Familie der vor fast vier Jahren nach einer Party in Gloucestershire spurlos verschwundenen Elise Fox hat heute einen erneuten Aufruf mit der Bitte um Informationen gestartet, die helfen könnten, sie zu finden.
    Nathan sah auf dem Bildschirm, wie drei Leute im Blitzlichtgewitter einen Raum betraten und sich an einen Tisch setzten. Ein gut angezogener, kultivierter Mann. Eine Frau in einem weinroten Hosenanzug. Eine jüngere Frau, ein wenig älter als Elise es jetzt wäre, wenn sie noch lebte.
    Sie war Elises ältere Schwester.
    Die Familie saß vor einem vergrößerten Foto von Elise. Darauf sah sie jung und schön und unbeschwert aus. Nathan hätte sie nicht wiedererkannt. Seine Elise war eine flimmernde Reihe von Schnappschüssen: die Gestalt mit dem weißen Gesicht neben den Tennisplätzen, ihre weißen Brüste in der Dunkelheit von Bobs Auto, die plötzliche Wärme in ihr, das Zucken ihres toten Fußes auf Bobs nacktem Schoß. Eine nackte Gestalt mit dem Gesicht nach unten in einem frisch geschaufelten Grab.
    Während die Kameras weiterblitzten, las der Mann ein vorformuliertes Statement ab. »Wenn jemand da draußen, irgendjemand, weiß, was mit Elise geschehen ist, oder wenn jemand da draußen weiß, wo Elise sein könnte, flehen wir Sie an, sich bitte, bitte bei uns zu melden.«
    Seine Stimme brach beim Wort »bitte«, und seine Tochter streckte die Hand aus und drückte sanft seinen Arm.
    »Wir flehen Sie an«, sagte sie. Elises Schwester.
    Sie blickte starr in die Kamera und durch sie hindurch.
    Nathan sprang aus dem Bett auf und schaltete alle Lichter ein – die Deckenleuchten, die Stehlampen, die Leselampen am Bett, die Lichter im Bad und bei der Garderobe. Dann holte er eine kleine Whiskyflasche aus der Minibar. Seine Hände zitterten so sehr, dass er sie nicht aufmachen konnte – er öffnete die Flasche mit den Zähnen und goss sich den Inhalt in die Kehle.
    Das Telefon klingelte. Nathan nahm ab, ohne nachzudenken.
    »Hallo?«
    »Hallo, Kumpel«, sagte Justin, Nathans Chef. Justin hielt sich für einen Geschäftsmann der alten Schule: Bei Konferenz-Abendessen trank er Whisky und lockerte seine Krawatte und krempelte sich die Ärmel hoch und rauchte Zigarren bis zum frühen Morgen.
    Justin und Nathan vertrauten einander nicht. Deshalb spielten sie allen – einschließlich sich selbst – vor, enge Freunde zu sein.
    »Wo bleibst du?«, fragte Justin.
    Nathan schaute auf die Uhr, dann zum Fernseher. Es ging nun um ein anderes Thema. Klimaerwärmung oder so was.
    »Sorry, Mann. Ich bin wohl kurz eingenickt.«
    »Du kommst jetzt besser runter, die Getränke werden schon serviert.«
    »Wann beginnt das Abendessen?«
    »In vierzig Minuten. Aber ich will, dass du so schnell wie möglich runterkommst.«
    Nathan merkte, dass er ein ungeschriebenes Gesetz gebrochen hatte: dass Handelsvertreter sich nie frei unterhalten und unter die Leute mischen durften. Stattdessen mussten sie von jemandem aus der Zentrale schikaniert werden, den sie nicht mochten und der ihnen nichts zu sagen hatte.
    Nathan eilte unter die Dusche. Er stellte sich unter den Wasserstrahl und prüfte, ob er seine Finger spüren konnte. Er wusch seine Haare mit Shampoo und seinen Körper mit der teuren Seife, die er mitgebracht hatte. Er zog frische Boxershorts, Socken und ein Hemd sowie einen frischen Anzug, Schuhe und Manschettenknöpfe an. Den Anzug, den er tagsüber getragen hatte, hängte er an die Schiene des Duschvorhangs, damit der Dampf die Falten glättete.
    Er betrachtete sich in der verspiegelten Wand des Fahrstuhls. Schicker Anzug und perfekte Frisur. Blutleere Lippen.
    Er ging zum Galadinner.

    Vor zwei Wochen hatte Nathan sich mit Amrita über die Kosteneffizienz einer Anzeige gestritten, die sie im Oldie Magazin geschaltet hatte – Amrita hatte ihn einen aufgeblasenen Angeber genannt. So war Nathans langjähriger Begünstigtenstatus heruntergestuft

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