Vergraben
leichten Kissen über den Augen.
Im Dezember begann die Morgendämmerung spät und die Nächte waren lang.
Obwohl Weihnachten Hermes’ stärkste Verkaufszeit war, hatten Nathan und seine Kollegen in der Zentrale nicht viel zu tun. Alles lag in den Händen der Jungs an der Front, wie die Handelsvertreter im Außendienst genannt wurden, wenn die Nachfrage groß war. Den ganzen Monat lang konnte er nicht viel mehr tun, als die Verkaufszahlen und Lagerbestände im Auge behalten und den Misserfolg mit den angestrebten Zielen vergleichen.
Als die Weihnachtstage näher rückten und die Möglichkeit eines leistungsbezogenen Bonus sich wieder einmal in Luft auflöste, verfiel die Zentrale in Apathie. Der stille Ärger wurde weder durch die saisonbedingte Reihe obligatorischer Abteilungsmittagessen noch durch die Weihnachtsfeier gelindert.
An Heiligabend arbeitete Nathan so lange er konnte. Es gab immer irgendetwas zu tun, auch wenn es nur das Abheften oder Ausmisten von Papierkram war. Um 15.30 Uhr lief er zweimal durch das ganze Gebäude auf der Suche nach jemandem, mit dem er etwas trinken gehen konnte. Aber seine Kollegen waren alle schon weg, einer nach dem anderen hatten sie sich mit fröhlichen Weihnachtsgrüßen verabschiedet, sich in ihre Mäntel gepackt und ihre Aktenkoffer und Handtaschen genommen.
Auf dem Nachhauseweg hielt Nathan an, um einzukaufen. Dann parkte er seinen Wagen bei der Kindertagesstätte und ging zum Hintereingang des Hauses. Die Kindertagesstätte lag im Dunkeln, die Kinder würden bald im Bett zugedeckt werden und dann beim Gedanken an einen nächtlichen Besuch unter ihrer eigenen aufgeregten Schlaflosigkeit leiden. Die Dunkelheit in der Kindertagesstätte machte Nathan jedoch keine Angst. Die Wände waren behängt mit Farbklecksen auf billigem Tonpapier. Es war undenkbar, dass dort etwas Böses lauerte.
Aber nun fiel ihm auf, dass die Wohnungen im ersten Stock im Dunkeln lagen, ebenso wie die Dachwohnung, die an seine angrenzte. Er sah auf die Uhr, weil er fürchtete, es könnte plötzlich drei Uhr morgens sein.
Stirnrunzelnd und ein wenig beschämt ging er zur Vorderseite des Gebäudes und sah, dass nirgendwo Lichter brannten – außer in seiner eigenen Wohnung, die er auch in seiner Abwesenheit beleuchtet ließ, für den Fall, die unbewohnte Dunkelheit könnte einladend wirken. Nicht einmal in Apartment A im ersten Stock, wo das spießige, langweilige Paar Wendy und Dave wohnte, brannte Licht. Sie hatten sogar die blinkende Lichterkette am Weihnachtsbaum ausgeschaltet, was auf Nathan wie absichtliche Bösartigkeit wirkte.
Nathan war nicht auf die Idee gekommen, dass alle seine Nachbarn über die Feiertage verreist sein könnten. Das war noch nie vorgekommen. Der Gedanke an all diese leeren Zimmer, an all die Dunkelheit unter ihm, während er schlief, ließ seinen Mund trocken werden und zog ihm die Eier zusammen.
Sein Schlüssel krächzte zu laut im Schloss. Als er den Flur betrat, schien jede seiner Bewegungen widerzuhallen. Nachdem er mit dem Handballen fest auf den Lichtzeitschalter gedrückt hatte, schaffte er es die ersten beiden Treppenabsätze hinauf.
Dann blieb er stehen.
Er drückte noch einmal auf den Lichtzeitschalter, drehte sich mit den Einkäufen im Arm um, rannte die Treppen wieder hinunter und zur Haustür hinaus.
Schließlich fand er ein Hotel in der Innenstadt, das noch nicht ausgebucht war. Das Zimmer war nicht billig, und Nathan war nicht gelassen genug, um einen Last-Minute-Sonderpreis herauszuhandeln.
Am Morgen des ersten Weihnachtstages kehrte er im Nieselregen in seine Wohnung zurück, um sich ein paar Sachen zu holen: einige Kleidungsstücke, Toilettenartikel, ein Buch und ein paar Zeitschriften, wenn er keine Lust mehr auf das Buch hätte. Er bestellte sich ein Weihnachtsessen beim Zimmerservice und aß, während er sich eine Wiederholung von Only Fools and Horses ansah. Den Abend des ersten Weihnachtstages verbrachte er an der Bar, wo er trotzig las und trank. Er merkte erst, wie betrunken er war, als er aufstand, um ins Bett zu gehen. Die Wände spielten ihm einen Streich, sie wichen vor ihm zurück, und die Barmänner sahen hinterhältig und böse aus.
Aber zumindest Silvester war erträglich. Er sah fern, und weil das Hotel in der Innenstadt nicht weit vom frisch sanierten Hafenviertel lag, konnte er die Autos hupen und die Mädchen schreien und lachen und Gruppen von Leuten einen Vers von »Auld Lang Syne« immer wiederholen und doch immer wieder
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