Vergraben
natürlich anfühlen. Ich werde immer diese Sache mit mir rumschleppen, die mir passiert ist, und niemand wird das verstehen können. Wie soll ich Kinder bekommen? Wie soll ich sie morgens zur Schule schicken, nach dem, was Elise zugestoßen ist? Wie soll ich ihnen erklären, dass es keine Monster gibt? Wie soll ich ihnen beibringen, sich nicht vor der Dunkelheit zu fürchten?«
Es frustrierte sie. Sie konnte es ihm erklären, aber sie konnte ihn das Ausmaß dieses Verlusts nicht spüren lassen – dass er sich wie eine Explosion von einem Mittelpunkt aus gleichmäßig in alle Richtungen ausgebreitet hatte, dass er sich in die Vergangenheit erstreckte und den Tag von Elises Geburt infizierte, und die Nacht, in der sie gezeugt worden war, er war ein Gespenst in den Schatten an dem Abend, als June und Graham sich zum ersten Mal gesehen, zum ersten Mal miteinander getanzt, sich zum ersten Mal geküsst hatten. Und er reichte in die Zukunft, er durchtränkte jeden Atemzug, den Holly jemals tun würde.
»Und was auch immer ich besitze«, fuhr sie fort, »was immer ich am Ende bekomme, welche Art von Glück auch immer ich mir aufbauen kann, das werden alles Dinge sein, die Elise nie haben konnte. Wie soll ich damit leben? Wie soll ich mich freuen über den Mann und die Kinder und das Haus und den Job und, was weiß ich, die drei Urlaube im Jahr auf Scheiß-Barbados, wenn meine Schwester eines Abends ausgegangen ist – und einfach aufgehört hat, zu existieren?«
»Elise würde sicher nicht wollen, dass du unglücklich bist.«
»Natürlich nicht. Aber nur weil das, was man fühlt, sinnlos ist, hört man deshalb trotzdem nicht auf, es zu fühlen.«
»Holst du dir Hilfe?«
»Was meinst du, von einem Berater?«
»Ja.«
Sie lachte und gab ihm einen Klaps aufs Handgelenk.
»Glaubst du etwa, ich bin verrückt?«
»Nicht von einem Psychiater . Von einem Berater, der … ich weiß nicht. Der dir hilft, dir irgendwie über deine Gefühle klar zu werden.«
»Das war ein Scherz. Natürlich war ich bei einem Berater. Aber es hat mir nichts gebracht.«
Er füllte ihre Gläser nach.
»Und was ist mit Ian?«
Ian war Hollys Exfreund.
»Was soll mit ihm sein?«
»Trefft ihr euch noch?«
»Wäre das schlimm?«
»Natürlich nicht. Ich wollte …«
»Nein«, bekräftigte sie. »Wir treffen uns nicht.«
Die Kerze flackerte im Glas und sie fuhr fort: »Ich weiß nicht. Auf eine gewisse Art glaube ich, die Trennung von Ian war vermutlich meine letzte Rettung.«
»Wie war er?«
»Na ja, eben ganz anders als du.«
»Ich weiß nicht, wie ich das verstehen soll.«
»Wahrscheinlich als Kompliment.«
Er trank einen Schluck Wein.
»Na ja«, erklärte sie, »er hätte mich genug lieben sollen, um den Rest seines Lebens mit mir zu verbringen, in Krankheit und Gesundheit, bla bla bla. Aber als es drauf ankam, hat er noch nicht mal versucht, ein Freund für mich zu sein – verstehst du, was ich meine? Es war ihm zu anstrengend, einfach mein Freund zu sein. Sobald etwas Schlechtes geschah, kam er damit nicht klar. Es war zu schwer für ihn. Der Ärmste.«
Nathan zündete sich eine Zigarette an.
»Du«, ergänzte Holly, »du kennst mich kaum. Aber du warst mir ein besserer Freund, als Ian es je war. Als eigentlich jeder.«
Sie leerte ihr Glas, und sie saßen einfach da, mit einer leeren Flasche und zwei leeren Gläsern zwischen sich.
Sie sagte: »Ich weiß nicht mal, was du überhaupt davon hast.«
»Wovon soll ich etwas haben?«
»Du weißt, was ich meine. Zeit mit mir zu verbringen.«
»Genau das habe ich davon.«
Sie legte den Kopf auf die Seite.
»Warum machst du das?«
Er wünschte, er hätte noch Wein im Glas. Er umklammerte den zarten Stiel mit der Faust.
»Ich will dir etwas Gutes tun.«
»Und glaubst du, du kannst das?«
»Ich kann es versuchen.«
Sie berührte seinen Handrücken.
Er sagte: »Was ich will – mehr als alles andere auf der Welt –, was ich wirklich will, ist, dir etwas Gutes zu tun.«
Er konnte sie nicht ansehen. Eine Weile dachte er, sie hätte nicht reagiert. Heiße Schamesröte stieg von seiner Brust auf.
Dann berührte Holly seine Wange. Er nahm ihre Hand in seine. Küsste ihre kleinen spitzen Fingerknöchel.
Sie sagte: »Ich kann das alles gar nicht glauben.«
»Ich auch nicht«, antwortete Nathan.
Ende April richtete Holly es so ein, dass sie nicht zu Hause war, als er in Sutton Down ankam. Es war Samstagmorgen. Im Kofferraum hatte er Blumen und Champagner.
Er klingelte an der
Weitere Kostenlose Bücher