Vergraben
mehr gezahlt. Außerdem hatte ihr Sozialleben praktisch nicht existiert.
Dann ließ sie den Kopf hängen, genau wie immer in solchen Augenblicken, und fuhr mit dem Finger über den Rand ihres Weinglases. »Aber zum richtigen Zeitpunkt , du weißt schon.«
Sie erzählte ihm von ihren Eltern.
»Dad war bei der Royal Navy. Das hat ihm immer, wie soll ich sagen, dieses Selbstbewusstsein gegeben. Eine gewisse Würde. Aber die Sache mit Elise hat ihm alles Selbstbewusstsein genommen. Er geht nicht mehr aus dem Haus. Er werkelt den ganzen Tag im Garten oder in seinem Arbeitszimmer herum. Wochenlang schafft er es nicht weiter als bis zum Gartentor, nicht einmal, um in den Pub zu gehen.«
Das war der Pub auf der anderen Seite der Dorfwiese, in dem Graham sich seit Hollys Kindheit zwei-, dreimal die Woche mit seinen Kumpanen getroffen hatte, um Domino oder an Weihnachten Poker zu spielen. Einer von ihnen war Mark Derbyshire gewesen, dessen Name im Dorf nicht mehr erwähnt wurde.
»Die Pressekonferenzen waren schrecklich für ihn«, sagte sie. »Er musste sich immer übergeben, bevor er aus dem Haus ging. Ich musste ihn auf dem Weg zum Auto stützen wie einen alten Mann.«
»Spricht er über sie?«
»Nein, er kann nicht. Er tut einfach so, als würde er nichts hören. Ich bin immer fast die Wände hochgegangen.«
»Aber jetzt nicht mehr?«
»Doch, manchmal schon. Aber an einem Sonntagmorgen habe ich ihn weinen gehört. Er hat auf dem Boden hinter der Tür seines kleinen Arbeitszimmers gesessen und einfach immer wieder ›Mein Gott, mein Gott‹ gesagt. Es klang irgendwie erstickt, als würde er auf seine Faust beißen und versuchen nicht zu weinen. Als würde es wehtun, weißt du, als würde er einen körperlichen Schmerz spüren. Das war etwa eine Woche vor Elises einundzwanzigstem Geburtstag.«
Nathan stützte das Kinn auf die Hände und sagte »Uff«. Dann fragte er, obwohl er die Antwort nicht hören wollte: »Und deine Mum?«
»Mum war Sekretärin – sie ist organisiert. Nach der Hochzeit hat sie für Wohltätigkeitsvereine, Bürgerinitiativen, alles Mögliche gearbeitet. PETA, den WWF, das Women’s Institute , die Obdachlosenhilfe. Für das Women’s Institute ging sie oft in unsichere Sozialwohnblocks und lehrte alleinerziehende Mütter und Familien, die von Sozialhilfe lebten, zu sparen und ihr Essen kostengünstig zu Hause zu kochen. Also wusste sie, was sie tun musste, um damit fertig zu werden. Sie gründete die Stiftung …«
Das war die Elise-Fox-Stiftung.
Im Lauf der Zeit hatten sich andere Familien, die auch Kinder verloren hatten, mit ihrem Engagement und Geldmitteln beteiligt. Die Stiftung weitete sich so aus, dass sie einen Beratungsservice für trauernde Hinterbliebene und Menschen wie June anbot, deren Schmerz auf Ungewissheit beruhte.
June war nie zu einem Therapeuten gegangen – die Stiftung war ihre Therapie. Aber sie wurde so groß, dass sie sie erdrückte. Nun war sie nur noch die Vorsitzende. Das Spendensammeln und die alltägliche Arbeit erledigte eine Frau namens Ruby, die 1991 ihre Tochter auf einem französischen Campingplatz verloren hatte.
Mit Ruby konnte June es sich erlauben, über Elise nicht nur wie über ein Mädchen zu sprechen, dessen Hauptmerkmal seine Abwesenheit war. Sie wurde wieder eine Tochter: ein Neugeborenes, ein stolperndes Kleinkind, eine schlaksige, bebrillte Elfjährige. Wenn Ruby da war, waren Elise und ihr Verschwinden nicht ein und dasselbe.
»Und was ist mit dir?«, fragte Nathan.
»Was soll ich sagen? Familien rücken enger zusammen, oder sie brechen auseinander. Ich hatte keine Wahl …«
»Aber es ist wie …«
Er fuchtelte mit der Hand herum auf der Suche nach dem richtigen Wort.
»Ich kann dir sagen, wie es ist«, begann sie. »Es ist wie beim offenen Vollzug. Von außen sieht es aus, als hätte ich alles: einen Job, ein Auto, Freunde, so was eben. Aber ich habe keine Freiheit mehr. Ich hatte immer damit gerechnet, dass ich mich eines Tages um Mum und Dad kümmern müsste. Aber nicht jetzt schon, verstehst du? Ich hatte Pläne. Natürlich keine großen. Ganz normale Pläne: guter Job, netter Mann, Haus, Kinder. Bla bla bla. Und dann plötzlich so was …«
Sie flatterte mit der Hand und folgte ihrer Bewegung wie einem aufsteigenden Vogel.
Nathan beugte sich nach vorne über den Tisch.
»Du bist noch nicht mal dreißig .«
»Noch nicht. Ha. Okay, es ist so, ich weiß, dass ich das wahrscheinlich alles haben werde. Aber es wird sich nicht
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