Verhängnisvoll - Felsing, K: Verhängnisvoll
abgeschickte Zeile auf dem Monitor sah. Sie würde Reese später einiges erklären müssen und wenn sie sich ein Donnerwetter einfangen würde, sollte ihr das nur mehr als recht sein. Immerhin bedeutete das, dass sie sich geirrt hatte und all ihre Sorgen überflüssig gewesen waren.
Ein Adrenalinschub puschte ihre Gedanken. Was, wenn das hier echt war? Wenn sie wirklich mit einem Opfer des Chatroom-Killers kommunizierte? Blödsinn. Ein Entführer müsste schön dämlich sein, seinem Opfer Gelegenheit einzuräumen, ins Internet zu gehen.
Beim Lesen beschleunigte sich Natanas Herzschlag, bis sie ein hartes Pochen in den Schläfen spürte. Sie tastete nach ihrem Mobiltelefon. Würde die Polizei jemanden herschicken, der diesen Chat übernahm? Oder machte sie sich lächerlich? Sie fühlte sich voreingenommen. Irgendwie waren ihr zu viele Leute begegnet, die das Internet als Raum zum hemmungslosen Ausleben ihrer … seltsamen Gelüste nutzten.
Das Chatten mit Unbekannten hatte sie vor Kurzem aufgegeben und hielt nur noch Kontakte zu Leuten, die sie persönlich kannte.
Nicht zuletzt hatte sie diesen Entschluss gefasst, weil sie Angst vor dem Chatroom-Killer hatte, sondern auch, weil sie Moms und Reeses Warnungen ebenso ernst nahm wie die der Experten im Fernsehen. Neue Leute kennenzulernen war ihr derzeit in der Realität lieber als in der anonymen Weite des Internets.
Also doch ein Spinner. Oder eine Spinnerin. Egal. Nat jedenfalls würde doch sofort Name und Anschrift nennen und darum bitten, die Angaben zu überprüfen. Die Polizei zu verständigen. Die Familie, Freunde.
Die Sekunden flossen ohne eine Antwort dahin.
Langsam mutete das lächerlich an. Sie verschwendete ihre Zeit.
Unter dem Chatfenster lugte die geöffnete Datei mit den Merkmalen hervor, die Reese zusammengefasst hatte.
Zweiundzwanzig. Fiel das aus dem Raster des Chatroom-Killers heraus? Eine Welle, die sich wie eine berauschende Befreiung anfühlte, schwemmte über sie hinweg. Reese mit ihren zweiunddreißig dürfte komplett aus dem Beuteschema des Mörders fallen. Warum hatte sie das nicht gleich erkannt? Sie hätte sich eine Menge Magenschmerzen ersparen können.
Nach den ersten befreienden Atemzügen stellte sich die Unsicherheit wieder ein. Die Merkwürdigkeiten um Reeses Verschwinden ließen sich nicht mit dieser Argumentation beiseiteschieben. Dennoch, ein sanft beruhigendes Gefühl blieb. Es musste etwas anderes passiert sein, dem Chatroom-Killer war Reese sicher nicht zum Opfer gefallen.
Sie schwankte. Hatte keine Lust darauf, nackte Tatsachen zu Gesicht zu bekommen und einem Perversen Befriedigung zu verschaffen wie einem Exhibitionisten im Park. Andererseits ließ das beklemmende Gefühl sie nicht los, etwas an dieser Geschichte könnte wahr sein. Sie könnte sofort auf „abbrechen“ klicken, sollte sie nackte Haut sehen. Was vergab sie sich? Es drohte nichts als die Gefahr, einem Idioten zwei Sekunden Genugtuung zu schenken.
Sie bestätigte die Annahme des Videochats und führte den Mauszeiger sogleich auf den „Beenden“-Button.
Zuerst erfasste sie nur Schwärze. Es kostete Mühe, hinter dem blassblauen Schimmer ein verzerrtes Gesicht zu entziffern. Angstvoll aufgerissene Augen starrten übergroß aus einem schmalen, von strähnigem Haar umrahmten Gesicht.
„Oh Gott!“, entfuhr es Natana. Ihr Aufschrei barst im Raum und ließ Adrenalin durch ihre Adern rasen. Sie schoss mit dem Oberkörper vor, dichter an den Monitor heran, und versuchte, mehr Details zu erfassen. Die Dunkelheit offenbarte nichts.
Ein Flackern wie von einer Taschenlampe geisterte umher, erhellte für einen Augenblick Eindrücke, die Nat nicht zuordnen konnte. Die junge Frau hielt sich in einem winzigen Raum auf. Tränen glitzerten auf ihren Wangen. Stricke lagen um ihren Hals und den Oberkörper und hielten sie in Bewegungslosigkeit gefangen. Sie verrenkte sich, um die Arme nach vorn zu strecken.
„Hilf mir! Ich kann nicht mehr.“
Wie tausend Nadelstiche stach Nat die helle Stimme in den Kopf. Es traf sie ungleich härter, die Qual zu hören als die grausigen Bilder und die leblosen Chatzeilen. Sie würgte an Tränen und bitterer Galle. Das hier war viel perverser als alles, was sie sich in den schlimmsten Befürchtungen hätte ausmalen können. Die junge Frau war wirklich am Ende.
Sie musste herausfinden, wer die Frau war. Wo sie war. Wer sie gefangen hielt. Das Mobiltelefon lag an ihrem Ohr, ehe sie sich bewusst wurde, dass sie danach
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