Verhängnisvoll - Felsing, K: Verhängnisvoll
Andererseits … was verstand er von der Psyche eines Menschen? Ihr Liedtext war Hilferuf genug, oder? Obwohl Sally bewegungslos vor ihm stand, hatte er das Gefühl, ein verletztes Tier einzufangen, das sich mit Leibeskräften gegen den Zugriff wehrte, aus Panik und Unverständnis, dass man ihm nur helfen würde.
Er griff zu seinem Mobiltelefon und wählte eine Nummer. „Ist Tami Ogan auf dem Weg? – Sehr gut. Danke!“ Das Gespräch dauerte keine fünf Sekunden. Er wandte sich an Sally. Nie war es ihm so schwer gefallen, Härte zu demonstrieren und jemanden mit dem Rücken gegen die Wand zu drängen.
„Wollen Sie Ihre Schwester tatsächlich allein vor diese Aufgabe stellen?“
Ein Muskel unter Sallys rechtem Auge begann zu zucken. Simba wartete ein paar Atemzüge, dann wandte er sich ab. „Hat wohl keinen Sinn. Leben Sie wohl, Miss Ogan.“ Er gab Wade einen Wink.
Sie waren noch keine drei Schritte gegangen, da klapperten ihre Absätze über den Marmorboden der Hotel-Lobby. „Warten Sie!“
Simba blieb stehen und drehte sich um.
„Ich komme mit, aber nur Tami zuliebe.“
Hatte er es doch gewusst. Der Gedanke rief keine Genugtuung hervor, sondern eher ein Gefühl, als erstarrte sein Blut zu Eis. Sally hatte nicht gesagt: „Ich habe keine Familie mehr“ oder „Ich habe keine Geschwister mehr“, woraus er geschlossen hatte, dass diese Kontakte noch existierten. Wenn seine Vermutung stimmte, hatten die Schwestern durch das Erlebte vielleicht eine über das Maß einer normalen Bindung hinausgehende intensive Beziehung zueinander. Er konnte das nur mit Nani-ji und sich vergleichen. Von der Gesellschaft ausgestoßen, die Seele waidwund, hatten sie einander Kraft und Lebensmut gegeben. Natürlich erst, als er kein Kind mehr gewesen war, bis dahin war es Nani-ji gewesen, die mehr gab als sie bekam. Sie hatten sich gegenseitig aufgebaut und es geschafft, das Tal der Tränen zu verlassen.
Sally war darin ertrunken.
Wieder wanderten seine Gedanken zu Reese und Wärme flutete sein Herz. Ohne überflüssige Worte, einfach nur durch ihre Anwesenheit, ihre Gestik und den sanften Druck ihrer Finger hatte sie die Last geteilt, die ihn niederdrücken wollte, nachdem Nani-ji sich zurückgezogen hatte. Sein Verstand sagte, dass er sie gehen lassen musste, sein Herz blutete und sein Körper wollte dem Befehl nicht gehorchen, am Rande des Gartens stehen zu bleiben. Nur Reeses stille Anteilnahme hatte ihm die Kraft gegeben, das Toben in seinem Inneren in den Griff zu bekommen, obwohl die Erkenntnis sein Herz wie Säure verätzte, dass Nani-ji und Artemis sich zum Sterben zurückgezogen hatten. Es würde kein Wiedersehen in Indien geben, keine Aufbauarbeit in seinem Dorf.
Nani-ji hatte schon immer ihren eigenen Willen besessen und ihn gelehrt, die Wünsche anderer zu respektieren. Sie zum Sterben allein zu lassen hätte er dennoch niemals akzeptiert, wenn nicht Reeses Körper all die Liebe ausgestrahlt hätte, die er für Nani-ji empfand. Liebe musste mehr sein als die Erfüllung des eigenen Egos. Liebe konnte auch Verzicht bedeuten. Selbstbeherrschung. Liebe musste befähigen, Stärke zu zeigen. Liebe machte stark! Wahre Liebe. Und die erfüllte sein Herz, wann immer er an Reese dachte. Sie allein gab ihm die Fähigkeit, ohne unerträglichen Schmerz an Nani-ji zu denken und nicht in Verzweiflung zu versinken. Was er zu verhindern gesucht hatte, erfüllte ihn nun mit Dankbarkeit. Er liebte Reese. Er musste diese Sache hier zu Ende bringen und ihre Nichte befreien, damit auch sie ihr Herz an ihn abtreten konnte.
„Nach dir.“ Wade öffnete die Tür und wies auf die Rasenfläche.
Der Hubschrauber wartete startbereit. Wade nahm neben dem Piloten Platz und Simba schob sich auf die Sitzbank gegenüber Sally.
„Danke“, sagte er. Tatsächlich breitete sich etwas wie Anerkennung in ihm aus, weil Sally Ogan über ihren Schatten gesprungen war.
Sie erwiderte nichts.
„Sind Sie bereit, uns mit ein paar Informationen zu unterstützen?“
„Was wollen Sie wissen? Ich werde nicht über …
ihn!
… reden. Er existiert für mich nicht!“ Ihre Stimme klang mechanisch, wie von einem Roboter.
Simba ließ ihr Zeit, auch wenn er die Sekunden dahintropfen hörte und es sich anfühlte wie Leben, das unaufhaltsam durch die Finger rann. Er würde eine Menge Fingerspitzengefühl aufbringen müssen. Das Kribbeln in denselben demonstrierte ihm gerade mal wieder, dass er für sich wohl ein neues Wort erfinden müsste, denn so
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