Verhängnisvoll - Felsing, K: Verhängnisvoll
„Trotzdem danke.“ Sie trottete hinaus und blieb vor dem Eingang stehen. Ein vorwitziger Sonnenstrahl stahl sich durch die Wolkendecke, doch dann verdichtete sich die Bewölkung wieder, ein frischer Wind fegte Laub über den Fußweg. Beinahe hätte sie den Parkplatz gedankenversunken und mit gesenktem Kopf überquert, wäre ihr nicht eine Frau mit einem Hund begegnet. Natana ging in die Knie und ließ sich von dem schwarzen Chihuahua die Hand lecken. Als sich Nat wieder aufrichtete und den beiden hinterhersah, glaubte sie, das Lächeln würde ihr im Gesicht gefrieren. Da stand Reeses Wagen.
Sie rannte über den Parkplatz. Kein Zweifel, es musste das Auto ihrer Tante sein. Auch wenn sie das Kennzeichen nicht auswendig kannte, am Spiegel hing ein Rolling Stone in Miniaturausgabe mit einer Gitarre in den Händen. Nat ging um den Wagen herum. Am Kofferraum erkannte sie die Beule, die von Reeses wenig ruhmreichen Kampf vor einem halben Jahr gegen einen Begrenzungspfeiler stammte.
Erneut versuchte Nat, ihre Mutter anzurufen.
„Schatz? Ich bin noch auf der Baustelle …“
„Mom! Du musst sofort herkommen.“
„Was ist passiert?“ Moms Stimme wurde sofort schrill vor Aufregung.
„Mir geht es gut. Aber Reese … sie ist nicht in Urlaub. Ihr Wagen steht auf dem Krankenhausparkplatz und in ihrer Wohnung …“ Nat spürte, wie etwas ihr die Kehle zuschnüren wollte. „Bitte Mom, hol mich hier ab.“
„Wo bist du, Liebes?“
„Am Krankenhaus.“
„Ich bin in einer Viertelstunde da.“
„Danke, Mom.“
Nat zog ihre Jacke enger um den Körper und ging vor den parkenden Fahrzeugen auf und ab. Plötzlich begann sie, die einbrechende Dunkelheit zu verabscheuen. Ein wilder Gedanke jagte den nächsten. Reese war dem Chatroom-Killer auf die Spur gekommen und der hatte sie sich nun gekrallt. Erstens: Reese hatte erzählt, das Mädchen, das ihm entkommen war, hätte ein ungewöhnliches Tattoo beschrieben. Eine Klapperschlange, die von Ohr zu Ohr reichte. Zweitens: Zusammen mit Maggie war ein Helfer eingeliefert worden, dem sie mit einer OP das Leben gerettet hatte – und er trug genau dieses Tattoo. Das war viel zu auffällig, als dass es sich um zwei verschiedene Personen handeln konnte. Reese kannte den Killer also. Drittens: Reese hatte das Chatten ausprobiert. Was, wenn sie dabei ausgerechnet diesem Psychopathen begegnet war? Blödsinn, sagte sich Nat. Reese würde keine Verabredung mit jemandem aus dem Internet treffen. Warum standen zwei Kaffeetassen auf der Spüle? Und das Bett sah auch eher nicht nach einer braven Solonacht aus. Überhaupt: Die Wohnung wirkte auf keinen Fall, als wäre Reese in Urlaub gefahren. Endlich bog das Fahrzeug ihrer Mutter auf den Parkplatz. Nat stand schon neben der Fahrertür, ehe Mom eingeparkt hatte.
Vor lauter Aufregung erzählte Nat alles wild durcheinander. Mom hatte wahrscheinlich überhaupt nicht kapiert, was sie sagen wollte, doch dann bemerkte sie den ernsten Gesichtsausdruck.
„Ich glaube, wir müssen zur Polizei fahren“, sagte Mom. Sie ging zu Reeses Wagen und sah durch das Seitenfenster hinein.
„Was haben die im Krankenhaus genau geantwortet?“
„Nur, dass Reese nicht im Dienst ist und sie weiter keine Auskunft geben dürfen.“
„Dr. Little!“
Natana zuckte zusammen und wirbelte herum. Ein Paar kam vom Krankenhaus zu ihnen herübergelaufen. Die Frau rang um Atem, als sie vor ihnen stehen blieb.
„Dr. Little. Maggie fragt ständig nach Ihnen. Haben Sie heute wieder Nachtschicht?“
Mom beeilte sich, den Irrtum aufzuklären. „Es tut mir leid, Mrs. …“
„Garner.“
„Es tut mir leid, Mrs. Garner. Meine Schwester ist verreist.“
„Oh!“
Natanas Gedanken kreisten noch um die Eltern dieses Mädchens, als sie mit ihrer Mutter im Büro eines Police Officers saß. Sie lauschte dem Gespräch nur mit halbem Ohr. Mrs. Garner war beinahe in Tränen ausgebrochen, als Mom ihr sagte, sie wisse nicht, wann Reese den Dienst wieder aufnehmen würde. Sie hörte ihre gestammelten Worte.
„Aber Maggie braucht sie doch. Dr. Little weiß das. Wie kann sie …“
Die Frau hatte den Vorwurf nicht ausgesprochen, aber er schwang in ihrer Stimme mit. Das war auch etwas, das Nats felsenfeste Überzeugung untermauerte. Reese war nicht freiwillig irgendwo hingefahren. Sie würde niemals einen Patienten im Stich lassen, sondern ihren Urlaub so legen, dass sie mit gutem Gewissen fortkonnte.
„Gedulden Sie sich bitte einen Augenblick“, sagte der Officer.
Warum?
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