Verheißung des Glücks
das Haus noch genauso aus wie in Lincolns Kindheit. Nur dass es gar so düster gewesen war, daran erinnerte er sich nicht. Vermutlich sah man als Kind die Dinge mit anderen Augen. Was einem Erwachsenen schlichtweg trist und öde erscheinen mochte, fand ein kleiner Junge vielleicht eher ein wenig unheimlich — und damit natürlich interessant.
Das Haus stand, umgeben von abgestorbenen Bäumen, auf einem felsigen Hügel. Dahinter breitete sich in bleigrauen Schattierungen das Meer aus. Früher hatten die knorrigen Aste der Bäume sicher einmal üppiges Laub getragen. Doch der erbarmungslose Regen des Hochlandes hatte die nährende Humusschicht weggeschwemmt und nun gruben sich die uralten Wurzeln in den blanken Felsen. Die toten alten Bäume zeugten davon, dass die Gegend nicht immer so kahl und lebensfeindlich gewesen war wie jetzt.
Das Frühjahr neigte sich dem Ende zu, doch in der Umgebung von Ian MacFearsons Haus gab es keine blühenden Wildblumen. Hier würde sich erst dann wieder eine Blüte im Wind wiegen, wenn sich eines Tages jemand die Mühe machte, neuen Mutterboden herbeizuschaffen. Warum ein Mann sich in eine solche Wüstenei zurückzog, überstieg Lincolns Vorstellungskraft. Gleichwohl schien es eine gewisse Art von Menschen hierher zu ziehen, denn in der weiteren Umgebung standen noch andere, neuere Häuser, wenn auch nicht ganz so imposante wie das Herrenhaus des alten MacFearson. Einige der neuen Gebäude hatte Lincoln auf seinem Ritt entdeckt. Sie waren in seiner Kindheit noch nicht da gewesen. Sicher hatte Ian MacFearson außer seiner eigenen Nachkommenschaft noch entferntere Verwandte, die gerne in seiner Nachbarschaft lebten.
Lincoln sah von seinem Standort aus keinerlei Anzeichen von Leben auf dem vom Wind umtosten Anwesen. Aber er erinnerte sich daran, dass es schon immer so leer und verlassen gewirkt hatte. Wenn man nicht gerade Zeuge wurde, wie die ganze MacFearson Meute zu einer ihrer Unternehmungen aufbrach oder von einem ihrer Ausflüge nach Hause zurückkehrte, konnte man glauben, das Herrenhaus sei unbewohnt. Im Winter stieg gelegentlich eine dünne Rauchsäule aus dem Kamin, aber nun war davon keine Spur.
Betreten hatte Lincoln das Herrenhaus noch nie. Man hatte ihn nie herein gebeten. Aber soweit er wusste, erging es ihm da nicht anders als jedem anderen Nachbarn. Angeklopft hatte er häufig. Dann waren seine Freunde zum Spielen herausgekommen. Über ihren Vater sprachen sie nie. Das taten nur Leute, die ihn nicht kannten.
Die Gedanken an jene glücklichen Tage schmerzten. Doch der gesunde Menschenverstand behielt die Oberhand. Lincoln ritt davon, bevor ihn jemand entdecken konnte. Aber die Erinnerungen an Dinge, die er glaubte, längst vergessen zu haben, ließen sich nicht abschütteln. Fast ohne es zu wollen, verließ er den Pfad, der ihn zurück nach Süden zum Haus seiner Mutter führte, in Richtung Osten. Unbewusst strebte er einem Ort entgegen, an dem er als Kind oft gespielt hatte.
Den Teich gab es noch. Nur die zerfallene Ruine eines Schuppens nahebei ließ erkennen, dass früher Menschen hier gewohnt hatten. Im Grunde war das Gewässer nicht einmal ein richtiger Teich, nur eine steinige Vertiefung, in der sich das Regenwasser sammelte. Und da es davon meist genug gab, war das Becken stets gefüllt. Ein paar mit Moos bedeckte alte Mauersteine am Rand des Wassers wiesen darauf hin, dass früher wohl jemand den jetzigen Teich als Keller genutzt hatte. Aber das musste schon ein-oder zweihundert Jahre her sein.
Noch etwas fiel Lincoln wieder ein, während er sich langsam dem Wasserloch näherte: Es war an einem jener wenigen heißen Tage des kurzen Sommers in seinem achten Jahr gewesen. Meist wurde es im Hochland nicht so warm, dass man sich nach einer Abkühlung sehnte. Aber jener Tag war wirklich ungewöhnlich heiß gewesen. Darum hatte er ein wenig im Wasser geplanscht. Schwimmen konnte er damals noch nicht, aber der Teich war nur an einer Stelle wirklich tief, die er tunlichst mied.
Doch er war nicht der Einzige, der das Wasserloch kannte. Bald erschienen auch ein paar von den MacFearson-Brüder, um sich in dem kühlen Nasse ein wenig zu erfrischen. Lincoln hatte sich immer nach gleichaltrigen Spielkameraden gesehnt und freute sich über die Ankunft der wilden Meute. Er bot den Jungen seine Freundschaft an. Drei von ihnen wollten nicht viel von ihm wissen. Aber der Vierte, den die anderen Dougall riefen, war ebenfalls gerade acht Jahre alt geworden. Er gesellte sich zu
Weitere Kostenlose Bücher