Verheißung des Glücks
zweite Saison und brachte den unzähligen Empfängen und Festen keine allzu große Begeisterung entgegen. Im vergangenen Jahr hatte er in seinen Briefen furchtbar darüber gestöhnt. All das ungeduldige Warten, bis man endlich in die höheren Sphären der Erwachsenenwelt vordringen durfte, nur um dann festzustellen, um wie viel unterhaltsamer es war, sich die Zeit mit seinen Schulfreunden zu vertreiben.
Justin dachte an zwei ganz bestimmte Männer, die er Melissa vorstellen wollte. Er war sich sicher, dass sie die Gentlemen sympathisch finden würde. Dabei hatte er ganz und gar nicht vor, den Ehestifter abzugeben. Er wusste lediglich, wie wenig auch diesen beiden Junggesellen an den endlosen Empfängen und Dinners der Londoner Saison lag. Wenn er sie also Melissa nicht vorstellte, würde sie ihnen nie begegnen.
In einem der Männer täuschte er sich allerdings. Richard Sisley, der älteste Bruder eines von Justins Schulfreunden, würde eines Tages den Titel seines Vaters und dessen nicht unbeträchtliches Vermögen erben und wurde bereits seit geraumer Zeit von seiner Familie bedrängt, sich eine Frau zu suchen. Daher mischte er sich in dieser Saison wohl oder übel unter die Schar der hoffnungsfrohen Junggesellen.
All das erfuhr Melissa von Richard Sisley persönlich, während sie inmitten zahlloser anderer Paare miteinander über die Tanzfläche wirbelten. Es war bereits der zweite Ball, zu dem sie eingeladen war, und er war noch festlicher und beeindruckender als der erste. Dabei war die Zahl der geladenen Gäste viel kleiner, aber hier tummelten sich nur handverlesene junge Leute aus den höchsten Kreisen. Richard war Melissa schon auf dem ersten Ball vorgestellt worden, sie hatte seinen Namen aber wieder vergessen. Nur zu gut erinnerte sie sich allerdings daran, dass er sie bei ihrem ersten gemeinsamen Tanz zum Lachen gebracht hatte. Das brachte ihm einen gewaltigen Pluspunkt ein, denn gerade an jenem Abend hatte die Enttäuschung darüber, dass Lincoln sich schon wieder nicht unter den Gästen befand, ganz besonders an ihr genagt.
Richard war ein liebenswürdiger Mensch und sah noch dazu recht gut aus, wenn auch nicht ganz so gut wie Justin. Aber welcher Mann konnte in dieser Beziehung Justin St. James schon das Wasser reichen? Er war nun einmal der Sohn eines äußerst ansehnlichen Elternpaares. Nicht einmal Lincoln konnte es vom Aussehen her mit Justin aufnehmen ...
Melissa hatte bereits befürchtet, dass sie jeden Mann, der ihr vorgestellt wurde, mit Lincoln Burnett verglich. Richard hätte ihr unter anderen Umständen vielleicht gefallen können, zumindest ein klein wenig. Aber nun war es ihr nicht möglich, irgendein weiter reichendes Interesse für ihn aufzubringen. Und all das nur wegen Lincoln — einem Mann, der spurlos verschwunden war.
Justin würde böse sein, weil sie Richard nicht einmal eine Chance gab. Justin bewunderte Richard zutiefst und fand nur lobende Worte für ihn. Und Richard mochte sie. Das hatte er sie schon bei ihrem ersten Zusammentreffen durch viele subtile Kleinigkeiten wissen lassen. Doch ihm entging nicht, dass sie kein Interesse an ihm hatte. Schon jetzt sah er sich nach einer neuen Partnerin um. Dabei war der Tanz noch lange nicht beendet.
Mit dieser Gleichgültigkeit gegenüber einem potenziellen Verehrer tat Melissa sich keinen Gefallen. Das wusste sie auch, aber sie konnte nicht anders. Dann würde sie eben in London keinen Mann finden. Ihre Eltern hatten ihr versichert, sie könne sich damit Zeit lassen. Warum sollte eine Frau, kaum dass sie die Schule verlassen hatte, überhaupt heiraten? Von keinem Mann verlangte man etwas Derartiges. Männer durften tun und lassen, was sie wollten, solange es ihnen gefiel. Und die meisten machten regen Gebrauch von diesem Privileg.
Sie konnte sich ja auch ganz anderen Dingen zuwenden. Es musste doch nicht unbedingt eine eigene Familie sein. Ein interessanter Gedanke wäre vielleicht, den See trockenzulegen, sobald sie wieder nach Hause kam. Dann wüsste sie endlich, welche Art von Ungeheuer auf seinem Grund lauerte. Sie würde als die furchtlose Melissa MacGregor in die Geschichte eingehen, die den ersten Drachen der Menschheitsgeschichte entdeckt hatte ...
Sie bemerkte ihn im Vorbeitanzen. Schon last gewohnheitsmäßig hielt sie Ausschau nach schwarzem Haar und nach hoch gewachsenen Männern. Die Kombination beider Merkmale zog Melissas Blicke an wie ein Magnet. Sie stolperte, weil sie versuchte, sich mitten in einer Drehung
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