Verheißungsvolle Küsse
Abwesenheit.
»Er ist nach Bristol gereist«, beichtete Marjorie, als die Kutsche in Richtung Richmond ratterte.
»Bristol?« Helena sah sie überrascht an.
Marjories Mund wurde schmal, sie schaute aus dem Fenster. »Er will sich dort über eine geschäftliche Möglichkeit informieren.«
»Geschäftliche Angelegenheit? Er …« Weil sie wusste, dass es ein heikles Thema war, verstummte Helena.
Marjorie zuckte die Achseln. »Was würdest du tun? Momentan sind wir noch auf Monsieur le Comtes Gehaltsliste - aber was soll aus uns werden, wenn du heiratest und fortgehst?«
Helena hatte darüber noch nie nachgedacht, es sich nicht klargemacht, aber nun nahm sie sich in Acht und nörgelte nicht mehr an Marjorie herum.
»Eh bien« , murmelte Marjorie, als die Kutsche schließlich anhielt und sie ausstiegen. »Thierry wird später zurückkehren. Er wird uns heute Abend zu Lowys Maskenball begleiten. Dann sehen wir weiter!«
Helena blieb an Marjories Seite, als sie eintraten und ihre Gastgeberin begrüßten. Eine untrügliche Vorahnung spannte ihre Nerven zum Zerreißen an. Sie bewegte sich durch die beachtliche Menge, die vor Gelächter und guter Laune sprühte, suchte mit den Augen, mit den Sinnen und atmete erleichtert auf, als sie keine Spur von Sebastian entdeckte.
Sie plauderte ein paar Minuten, ging dann weiter, trennte sich von Marjorie und wagte sich alleine aufs Parkett. Inzwischen war sie gut bekannt und besaß auch genug Selbstsicherheit, dass sie sich ungezwungen bewegen konnte. Zwar war sie unverheiratet, aber doch älter und erfahrener als die Mädchen, die ihre erste oder zweite Saison absolvierten; also räumte man ihr einen anderen Status ein, der ihr größere gesellschaftliche Freiheit erlaubte. Helena unterhielt sich mit diesem und jenem, während sie sich durch die Menge schlängelte.
Immer noch standen drei Namen auf ihrer Liste, aber nur diese drei. Waren Athlebright und Mortingdale anwesend? Wie sie es bewerkstelligen wollte, sie auf die Wirkung ihrer Berührung hin zu testen und das mitten in einem überfüllten Salon, wo eher Gespräche als Tanzen oder Berühren das Hauptanliegen waren, stellte noch eine ungelöste Aufgabe dar - eine, bei der ihr Verstand bockte und versagte.
Nur allzu bereitwillig wandte sie sich anderen Problemen zu. Nach gestern Abend hatte sie reichlich Stoff zum Nachdenken.
Dieser verfluchte Sebastian! Sie hatte während der ganzen Nacht, in den stillen Stunden, in denen sie sich hin- und herwälzte, um zu vergessen, versucht, das Gefühl seiner Lippen auf ihren, die Wärme seiner Nähe, den Reiz seiner Berührung aus ihrer Erinnerung zu löschen.
Unmöglich.
Stunden hatte sie damit zugebracht, sich selbst abzukanzeln, sich vor Augen geführt, wie konträr zu ihren sorgfältig bedachten Plänen es war, einem solchen Mann auf den Leim zu gehen - um dann aus lüsternen Träumen zu erwachen, in denen genau das passiert war.
Wahnsinn! Er hatte geschworen, niemals zu heiraten. Was dachte sie sich überhaupt?
Für eine Frau, wie sie es war - eine unverheiratete Adlige aus einer alten Familie - kam es keinesfalls in Frage, seine Mätresse zu werden. Aber auch einen entgegenkommenden Mann zu heiraten mit dem Hintergedanken, sich die Freiheit zu nehmen für eine verbotene, aber gesellschaftlich akzeptable Liaison mit einem anderen - auch das war undenkbar. Zumindest für sie.
Sebastian hatte zweifellos daran gedacht, aber das hatte mit ihren Plänen nichts gemein.
Bis heute nicht.
Was ihr etliches Kopfzerbrechen bereitete - er überraschte sie, indem er in der Tür zu einem angrenzenden Salon erschien, als sie gerade darauf zuhielt.
»Mignonne!« Er nahm die Hand, die sie instinktiv hob, um ihn abzuwehren, verbeugte sich, und führte sie an seinen Mund.
Ihre Blicke begegneten sich über ihren Knöcheln, als sie mit einiger Verspätung einen raschen Knicks machte. Was sie in den blauen Tiefen sah, ließ ihr den Atem stocken.
»Euer Gnaden!« Sie verfluchte ihre Kurzatmigkeit und versuchte sich zu sammeln, als er sie, immer noch mit ihrer Hand in seiner, an die Seite des Raumes drängte. Nachdem sie gezwungen war, sich zu fügen, erinnerte sie sich daran, wie gefährlich er war - aber schon meldete sich frech ein anderer Teil ihres Verstandes und wies sie darauf hin, dass sie bei ihm sicher war.
Einerseits dangereux , andererseits ritterlicher Beschützer. Wen nahm es Wunder, dass sie verwirrt war?
»In der Tat, ich bin sehr froh, dass ich Euch treffe.« Angriff
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