Verico Target
Stühlen, auf denen ganze fünf
Personen saßen. Ein nervös wirkender Mann stand hinter
einem Vortragspult und starrte unglücklich auf die leeren Sitze.
Armer Doktor Leinster.
Im Topas-Saal sah es weitaus besser aus. Die Menschen
drängten sich zwischen den Sitzreihen, und Hoteldiener
schleppten noch mehr Stühle heran. Auf einer goldverzierten
Staffelei stand das Vortragsthema geschrieben: ›Die Patentierung
von Genfragmenten: Fragen zur Ethik, zu den rechtlichen Problemen und
zu den kommerziellen Auswirkungen.‹ Das war die Erklärung:
Die Patentierung gentechnischer Entdeckungen war ein
brandheißes Thema. Aber das war Geldverdienen wohl immer.
Sie schalt sich selbst ob ihres Zynismus. Schließlich ging
es auch im Granat-Saal auf der anderen Seite des Korridores mit
›Adhesive Zell-Zell-Anlagerung durch Tyrosin-Phosphatase –
erste Versuchsergebnisse‹ lebhaft zu, und das hörte sich
nicht an wie etwas, mit dem man reich werden konnte. Die Gruppe, mit
der Judy im Aufzug gefahren war, steuerte auf den Granat-Saal zu. Die
Leute strahlten gespannte Neugier aus. Na wartet, bis ihr Bens
Vortrag hört, dachte Judy und lächelte in sich hinein.
Sie schlängelte sich durch das Aufzugskontingent; in der
Gruppe befanden sich auch drei Frauen. Eine davon war recht
hübsch, eine zarte kleine Asiatin mit schwarzglänzendem
Haar.
Dea Nukleia und Ben. Das erstklassige Team. Ihr Mann.
Der ihre.
Die asiatische Wissenschaftlerin hatte einen hellroten Mund und
eine äußerst schmale Taille. Sie wog gewiß nicht
mehr als hundertzehn Pfund. Maximal. Der Duft nach Sandelholz stieg
Judy in die Nase.
Sie verließ das Hotel und fuhr in der flirrenden Hitze zum
Luftwaffenstützpunkt Nellis.
Um halb acht Uhr abends, als Ben immer noch nicht in der Top Hat
Bar aufgekreuzt war, begann Judy ärgerlich zu werden.
Sie saß allein an einem winzigen Tischchen in der Nähe
der vom Boden bis zur Decke reichenden Fenster und sah zu, wie die
Neonlampen draußen grün und rot und blau und golden
zuckten. Es wirkte nicht hübsch, nur hysterisch, aber hätte
sie sich vom Fenster abgewandt, wäre sie gezwungen gewesen, den
Konferenzteilnehmern, die durch die Bar zum Speisesaal gingen,
zuzulächeln und zu -winken, und sie alle hätten sie
insgeheim bemitleidet, wie sie so fein herausgeputzt auf den Ehemann
wartete, der sie versetzt hatte. Möglicherweise wußten sie
sogar, wo Ben sich gerade befand – und mit wem.
Nein. Das war unfair. Vermutlich hatte er über irgendeiner
hitzigen Diskussion über Epinephrin-Rezeptoren oder Zytokine die
Zeit vergessen. Das war nichts Neues. Sie sollte ruhigbleiben, ihm
die Chance geben zu erklären, was es mit seiner Verspätung
auf sich hatte, und ihn nicht anspringen, bloß weil ihr Tag eine einzige Pleite gewesen war. Ressman hatte absolut nichts
von sich gegeben, er war unwirsch und kurz angebunden, ja beinahe
grob gewesen. Judy wußte, daß sie ein Talent dafür
hatte, nach den politischen Aspekten des Wissenschaftslebens zu
bohren, über die Wissenschaftler nie reden wollten, aber Ressman
hatte sich in Sachen Schweigsamkeit als einsame Spitze erwiesen.
Nicht einmal ein brauchbares Zitat hatte sie von ihm
herausbekommen.
Viertel vor acht warf ihr der Kellner einen vielsagenden Blick zu,
und Judy bestellte noch ein Glas kalifornischen Chardonnay.
Um acht sah sie Anita, die Doktorandin von Berkeley, zusammen mit
Sid Leinster in den Speisesaal gehen. Anita trug ein rotes Kleid, das
so eng anlag wie eine zweite Haut. Bis zu diesem Moment hatte Judy
ihr eigenes schwarzes Strickensemble, in dem sie sich beinahe schlank
fühlte, mit Wohlwollen betrachtet. Anita hatte eine Gardenie im
glänzenden Haar.
Zehn nach acht schob Judy den Stuhl zurück und sprang auf,
was den Rest Wein im Glas verschüttete. Ben kam in die Bar.
»Judy! Tut mir leid, daß ich mich verspätet
habe!«
»Dir tut’s immer leid!« fuhr sie ihn an und wischte
mit der Cocktailserviette über den winzigen Tisch. »Ich
warte seit einer Stunde und zehn Minuten, Ben!«
»Ich weiß, ich weiß. Aber dafür gibt es
einen guten Grund. Komm, gehen wir.«
»Gehen? Wohin? Ben, ich bin am Verhungern!«
»Ins Zimmer. Wir bestellen was beim Zimmerservice. Wir
müssen in Ruhe reden können.«
Judy betrachtete ihn eingehender. Seine Augen glänzten wie im
Fieber, der Knoten seiner Krawatte war gelockert, und er hatte einen
Fleck am Hemdkragen. Sie beugte sich vor. Kein Lippenstift.
»Ben – hat der Vortrag geklappt?«
»Der was? Ach, der
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