Verico Target
und hatte sie alle drei
herausgeholt. Judy konnte sich nicht an den Namen der Frau erinnern,
die jetzt auf ihrem Schoß lag und starb.
Nein! Nicht starb! Wenn Mrs. Botts starb, hätte der Mann am
Lenkrad keinen Grund, Judy am Leben zu lassen! Bitte, lieber Gott,
laß sie nicht sterben!
Sie lugte aus dem Fenster. Es war ein viertüriger Wagen ohne
Zentralverriegelung. Wäre sie nicht mit den Handschellen an den
Vordersitz gekettet gewesen, hätte sie abwarten können, bis
der Wagen vor einer Kurve das Tempo verlangsamte, um dann die
Tür aufzureißen, sich hinausfallen zu lassen und
davonzurennen. Aber sie war angekettet, der Mann hatte eine
Waffe, und der Wagen wurde auch vor Kurven kaum langsamer. Botts
raste mit einem solchen Höllentempo weit hinauf in die
Adirondacks, als wäre der Teufel hinter ihm her. Natürlich
war er das auch – in Gestalt von Streifenwagen. In Gestalt jener
Leute, denen Verico gehörte. Und darüber hinaus sichtlich
in Gestalt seiner eigenen Dämonen.
»Und wie geht’s ihr jetzt?« fragte er mit belegter
Stimme nach hinten.
»Unverändert«, sagte Judy. »Ich tue, was ich
kann.«
Bitte stirb nicht!
Sie fuhren eine Stunde lang so weiter, ohne anzuhalten. Vielleicht
waren es auch zwei Stunden, Judy hatte längst jedes
Zeitgefühl verloren. Von den Kindern kam kein Laut, vermutlich
waren sie eingeschlafen. Rundum stiegen die Berge zum Himmel,
mächtige dunkle Schatten unter einem Halbmond. Sie fuhren so
lange, bis sie als das einzige Fahrzeug auf Straßen unterwegs
waren, die weder geräumt noch gestreut waren. Wäre hier die
gleiche Menge Schnee gefallen wie in Natick vor ein paar Tagen,
dachte Judy, gäbe es kein Vorwärtskommen mehr. Sie hoffte,
daß sich unter den wenigen Zentimetern Schneedecke nicht das
blanke Eis verbarg, denn an manchen Stellen fiel unmittelbar neben
der Straße das Gelände steil ab, und es gab nirgendwo
Leitplanken.
Schließlich bogen sie auf eine unbefestigte Straße
ein, gesäumt von dicht stehenden Bäumen, deren nackte
Äste sich hoch oben trafen. Der Wagen hatte Mühe
weiterzukommen, holperte und ächzte. Judy hielt die Frau mit
ihren Armen fest, um zu verhindern, daß sie von der Sitzbank
auf den Boden glitt. Der kleine Junge wachte auf und begann zu
weinen.
»Ist ja gut, Davey, Junge, wir sind ja schon da… gleich
sind wir da…«, beschwichtigte ihn Botts.
Er hielt den Wagen an. Judy konnte einen Blick auf die kleine
Hütte aus rohem Holz werfen, die unter schützenden
Bäumen stand, ehe Botts die Scheinwerfer abschaltete. Und jetzt
zog er sich auch die Skimaske vom Gesicht. »Okay, Davey. Gleich
liegst du in deinem warmen Bettchen. Bloß noch eine Minute,
mein großer Junge.« Das Kind weinte lauter.
Botts hob es aus dem Wagen und trug es zur Hütte, wo er mit
einem Schlüssel herumhantierte, den er aus der Tasche zog. Er
ließ Davey in der Hütte und kam zurück, um Penny zu
holen. Einen Augenblick lang konnte Judy im Licht des Mondes in ihr
blasses, verängstigtes Gesichtchen sehen, aber das kleine
Mädchen sagte nichts. Beim drittenmal trug Botts seine Frau in
die Hütte, beim viertenmal holte er etwas Langes, das in eine
Decke eingeschlagen war, aus dem Kofferraum, und dazu eine
Großpackung Pampers. Als er wiederkam, öffnete Judy die
Tür neben sich.
»Nein. Sie bleiben im Wagen.«
Eiskalte Angst kroch über ihr Rückgrat hinab.
Botts fuhr den Wagen ein Stück rückwärts über
die Straße und bog dann zwischen den Bäumen auf einen
Seitenweg ab, der wohl nicht mehr als eine Reifenspur unter dem
Schnee war. Hier unter den Bäumen konnte Judy überhaupt
nichts erkennen, doch dann, kurz bevor der Wald wieder endete,
stellte Botts den Motor ab, und unter ihnen erstreckte sich eine
glatte weiße Fläche, die im Mondschein glitzerte.
Ein See. Ein Bergsee, kalt und sehr tief. Um den Wagen und sie,
hilflos angekettet in seinem Inneren, verschwinden zu lassen.
Botts stieg aus und öffnete Judys Tür. Er schloß
die Handschellen auf und zog sie von der Rückbank. In der Hand
hielt er seinen Revolver.
»Sie müssen mir helfen, Schwester«, sagte er.
»Wir müssen gemeinsam schieben.« Er zog sie hinter den
Wagen.
Ihre Erleichterung war so tief, daß sie beinahe laut
auflachte. Er würde sie also doch nicht umbringen! Nein,
natürlich nicht, noch war seine Frau ja am Leben…
Der unebene Waldboden, der bis zu der Stelle, wo das Gelände
senkrecht nach unten abfiel, leicht anstieg und der Schnee machten es
unmöglich, den Wagen in Bewegung zu
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