Verico Target
sank auf einen
Küchenstuhl.
»Ich weiß es nicht sicher. Er zeigte Mutter eine Marke,
aber sie war zu aufgeregt, um genau hinzusehen. Sie erinnert sich
nicht einmal an seinen Namen.«
»Robert Cavanaugh«, sagte Judy, und als ihr Vater die
Stirn runzelte, mußte sie lachen. Es klang schwach und
blechern. »Du dachtest, ich würde mich nicht daran
erinnern, aber das sind die Sachen, die mir im Gedächtnis
bleiben, Dad. Fakten. Details.«
»Was ich sagen wollte: wenn da etwas vorgeht, an dem das
Justizministerium Interesse zeigt, dann könnte es
gefährlich werden. Ach, Kleines, wir haben dich so
lieb…«
Wieder diese Inkontinenz in Form von Tränen. Ihr Vater war
der einzige von allen Vätern ihrer Freundinnen, der jemals
gesagt hatte: »Ich hab dich lieb.« Und eingehüllt in
diese herzerwärmende Sicherheit war sie aufgewachsen, im
Gegensatz zu ihren Freundinnen, Freunden und Kollegen – und im
Gegensatz zu Ben, mit seiner schrecklichen Kindheit und seinen
Alkoholiker-Eltern. Sie hatte sich so sehr bemüht, ihm einen
Ausgleich für diese Kindheit zu bieten, aber irgendwie war ihr
das offenbar nie gelungen.
Das Taxi draußen hupte wieder. Judy stand auf und nahm den
Koffer.
Dan O’Brien flüsterte: »Sei vorsichtig,
Judy.«
Sie nickte, stolperte zur Tür, dann machte sie kehrt, um ihn
noch einmal zu küssen. Er roch nach Weichspüler und
Pfeifenrauch und Pomade – eine einzigartige Mischung, die sich
nie geändert hatte, nicht, seit sie vier oder fünf gewesen
war und den Duft zum erstenmal bewußt wahrgenommen hatte. Als
sie die Küchentür hinter sich schloß, warf sie einen
letzten Blick auf ihn; seine Lippen bewegten sich, während sich
seine Finger um den Onyxrosenkranz schlossen.
Draußen war es kalt, grau und trist. Judy schubste ihren
Koffer auf den Rücksitz des Wagens – selbst in Troy half
einem der Taxifahrer nicht mehr mit dem Gepäck – und
kletterte hinterher. »Zum Bahnhof nach Albany, bitte.«
Der Fahrer fixierte sie durch den Rückspiegel. »Alles in
Ordnung, Miss?«
Ihr fiel ein, wie sie aussehen mußte:
tränenverschmiertes Gesicht, verschwollene Augen, ungewaschenes
Haar. Ein unvermutet heftiger Schmerz durchfuhr sie: Ben. Ist tot.
Ist wirklich tot.
»Ja, sicher«, sagte sie zum Fahrer. »Alles in
Ordnung.«
Er zuckte die Achseln und fuhr den Wagen aus der Einfahrt ihres
Elternhauses.
Der
Amtrak-Zug füllte sich immer mehr, je weiter er in
südlicher Richtung den Hudson River entlang fuhr. Judy
hätte angenommen, diese Orte lägen viel zu weit entfernt
von New York City, um noch Menschen zu beherbergen, die
tagtäglich nach Manhattan zur Arbeit pendelten. Aber wenn dieses
Gedränge nicht aus Pendlern bestand, woraus dann? Männer in
Burberry-Mänteln über grauen Anzügen, Frauen, deren
hochhackige Pumps über den Rand von zusammenlegbaren
Leinentaschen guckten, während sie es sich in Socken und
Tennisschuhen bequem machten. Und alle lasen das Wall Street
Journal. Flüchtig konnte Judy eine Schlagzeile über IBM
erkennen und eine weitere über die Ukraine, aber sie
interessierte sich für keines von beidem.
Das einzige, was sie interessierte, war der Mord an Ben und das,
was sich unmittelbar davor bei Verico abgespielt hatte.
Sie fand einen Sitzplatz neben einer hübsch frisierten Frau
in mittleren Jahren, die ein grünes Wollkostüm anhatte und
so weit abrückte von Judy, wie sie konnte, ohne beim Fenster
hinaus und in den Hudson River zu fallen. Die Frau biß von
einem Mürbgebäck ab, und Judy drehte es den Magen um.
Die Pennsylvania Station war randvoll mit hektischen Pendlern, die
offenbar alle zu spät dran waren. Judy fühlte sich
irgendwie abgehoben von dem Gedränge rundum, so als würden
diese Leute in einer anderen Realität existieren, Hunderte von
Meilen entfernt von der ihren. Sie ertappte sich dabei, wie sie
halblaut vor sich hinsagte: »›Ich sah an alle Taten, die da
geschehen unter der Sonne, und fand, daß alles eitel war und
Haschen nach Wind.‹«
Sie verzog das Gesicht. Schluß damit! Drei Monate zusammen
mit ihrem Vater, und schon fiel sie in den alten Trott zurück!
Drei Monate zusammen mit einem Mann, der aus Überzeugung betete,
der an Engel glaubte und der doch tatsächlich ein Buch über
das Leben der Heiligen schrieb…
Ein Buch über das Leben von Heiligen! Judy, deren Wahlfach
Englisch gewesen war, schrieb Artikel über
Teilchenbeschleuniger, während ihr Vater, der Physik
unterrichtete, über das Leben von Heiligen schrieb. Und das
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