Verico Target
sanfter
Stimme.
»Ich hatte Angst, mich selbst zu verlieren.«
Er antwortete nicht, und im ersten Moment dachte Judy, er
hätte sie nicht verstanden. Aber wie sollte sie es ihm
erklären, wo sie es doch selbst kaum verstand? Doch dann nickte
Dan O’Brien mit ernstem Gesicht, und sie merkte, daß diese
seine wunderbare Gabe zu verstehen sich wieder einmal gezeigt hatte,
wie schon so oft zuvor, wenn Menschen sich mit ihren Problemen an ihn
gewandt hatten. Und das taten sie oft und gern: sie suchten Hilfe
oder Trost bei ihm – seine Studenten, die anderen Mitglieder
seiner Pfarrgemeinde, seine Freunde.
Und jetzt kamen ihr die richtigen Worte. »Während ich
hier bei euch war und nur geweint habe, nicht gegessen und nicht
geschlafen habe und nicht einmal fähig war, an irgend etwas
anderes als an Ben zu denken…« – ihre Stimme schwankte
bei der Nennung seines Namens, aber sie fuhr fort –, »da
war ich nicht ich selbst, Daddy. Ich bin nicht so. Ich bin… Ich
unternehme etwas, ich bringe die Dinge in Ordnung, ich gehe den
Dingen auf den Grund. Erinnerst du dich, du hast mich immer die
kleine Miss Marple genannt? Ich erkenne die Person kaum wieder, zu
der ich in den letzten drei Monaten geworden bin und ich… ich
will diese Person auch gar nicht sein!«
»Liebes, es war ein fürchterlicher Schock für
dich…«
»Ich weiß. Und ich habe mich auch noch nicht davon
erholt. Ich habe das Gefühl, ich werde mich nie davon
erholen.« Wiederum diese Tränen, diese Inkontinenz. Judy
blinzelte sie weg. »Aber ich möchte mich wieder so
fühlen wie ich selbst. Und hier kann ich nicht damit anfangen.
Du und Mama, ihr seid so lieb zu mir – zu lieb zu
mir…« Sie brach ab, ein wenig aus dem Konzept gebracht. Was
wollte sie damit sagen?
Dan O’Brien wußte, was sie damit sagen wollte. »Du
meinst, wir haben dich wieder zu einem Kind gemacht.«
»Ja«, sagte sie. »Ja. Und du weißt, was sogar
die Bibel darüber sagte: ›Als Kind, da hatte ich den
Verstand eines Kindes. Doch als ich heranwuchs, da trennte ich mich
von allem, was kindisch war.‹«
Vater lächelte leise. Judy zitierte sonst nie die Bibel. Seit
sie mit dreizehn Jahren aufgehört hatte an Gott zu glauben, tat
sie für gewöhnlich so, als hätte sie nie im Leben
Bibelverse auswendig gelernt – oder als wären sie ihr in
der Zwischenzeit entfallen; und sie tat auch so, als hätte
selbst ihre strenge katholische Erziehung nie stattgefunden. Das
wußte Dan O’Brien. Aber er brach keinen Streit deswegen
vom Zaun, denn zu streiten, das war nicht sein Stil. Er wartete nur,
überzeugt davon, daß Judy eines Tages in den Schoß
von Mutter Kirche zurückkehren würde. Judy hingegen
wußte, daß sie es nie tun würde, und so vermieden
die beiden normalerweise das Thema, weil sie einander keinen Schmerz
zufügen wollten. Doch das hier war nicht
›normalerweise‹. Ein ermordeter untreuer Ehemann war nichts
›Normales‹. Nicht für die O’Briens.
Ihr Vater sagte: »Also, ich hatte gewiß nicht vor, dir
noch mehr aus der Heiligen Schrift aufzudrängen, aber da du nun
mal diese Tür aufgestoßen hast, erlaube ich mir noch ein
Zitat. Einverstanden?«
Judy sagte, weil ihr nichts anderes übrigblieb:
»Einverstanden.«
»Es ist wieder Salomo, Liebes. Der Prediger Salomo, der alte
Mann, der alles gesehen hat, alles unternommen hat, allem auf den
Grund gegangen ist und der erkannt hat, daß er nichts wirklich
Wichtiges in Ordnung bringen kann: ›Dieses alles habe ich auch
in den Tagen meiner Eitelkeit gesehen: da ist ein Gerechter und geht
unter in seiner Gerechtigkeit, und da ist ein Gottloser, der lange
lebt in seiner Schlechtigkeit. Sei du nicht allzu gerecht und stelle
dich nicht gar zu klug; warum willst du dich
verderben?‹«
»Also, das sind mir feine Ratschläge!« rief Judy
mit mehr Schwung in der Stimme als je zuvor in den letzten drei
Monaten. »Damit sagt er doch, laß die schlechten Menschen
einfach ungestraft davonkommen mit allem, was sie
anstellen!«
»Dann denkst du also auch, daß wir es hier mit
schlechten Menschen, Plural, zu tun haben?« fragte Dan
O’Brien leise.
Judy starrte ihn an. Er hatte ihr eine Falle gelegt. Draußen
ertönte eine Hupe.
»Dad, das Taxi ist da…«
»Einen Moment noch. Das Taxi wird nicht ohne dich wegfahren.
Judy, ich glaube, daß einer der Polizisten, der mit dir sprach,
nicht Leutnant Piperston, sondern der andere, der nur einmal hier
war, vom Justizministerium kommt.«
»Wie willst du das wissen?« Sie
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